Donnerstag, 16. Februar 2012

Talent Cloud – oder die Virtualisierung des Fachpersonals

Die Informatik ist besonders gut darin, alten Wein in neuen Schläuchen anzupreisen. In den 1990er Jahre war es ein beliebter Sport vor allem unserer betriebswirtschaftlich orientierten Kollegen Wörter mit der Vorsilbe Tele (von griechisch: fern) zu bilden. Es gab Telearbeit, Tele-Business, Telekooperation. Tele-Learning, Telepublishing, Tele-Services, usw. Es implizierte das früher häufig benutzte Adjektiv ‚elektronisch‘.

Da ich immer ein Interesse für die Auswirkungen der Informatik auf Arbeitswelt und Gesellschaft empfand, führte ich während meiner Zeit an der TU München (1993-1997) ein Kooperationsprojekt durch mit dem Münchner Betriebswirt Ralf Reichwald. Am Ende bedankte er sich mit einem Exemplar seines 1996 erschienenen Buchs mit dem Titel ‚Das grenzenlose Unternehmen. Seither weiß ich, dass Unternehmen nicht mehr das sind, was sie einst waren. Die Ansammlung einer Menge unterschiedlich qualifizierter Mitarbeiter, die ein Leben lang am selben Ort werkeln, ist ein Auslaufmodell. Alles wird virtualisiert. Man geht symbiotische Verbindungen ein, weil der Aufbau und die Pflege von Kernkompetenzen nicht auf allen Gebieten möglich ist, oder aber zu viel Geld kostet. Es wird empfohlen, sich primär nach den Transaktionskosten zu richten, wenn man überlegt, ob man etwas selbst macht oder dafür einen Partner bemüht. Bei der Überwindung von Standortgrenzen helfen Teleservices, definiert als die mediengestützte ‚dislozierte‘ Erbringung von Dienstleistungen.

Im April 1999 war ich überrascht, als ich von Peter Glotz, dem inzwischen verstorbenen früheren SPD-Generalsekretär und damaligen Rektor der Universität Erfurt zu einem Workshop nach München eingeladen wurde. Es handelte sich um ein ‚International Senior Expert Forum‘ und man traf sich im Hotel Vier Jahreszeiten. Teilnehmer kamen von Fraunhofer Karlsruhe, LMU und TU München, FU Berlin, Universität Bremen sowie den Firmen Intershop und Pixelpark. Die Mehrzahl war Ausländer, z.B. von der Loughborough University, Manchester Metropolitan University, Universität Warschau, Bank of Canada, Boston University; University of Southern California, Getty Picture Collection sowie dem National Institute of Multimedia Education in Tokio. Die Organisation lag in den Händen einer internationalen Beratungsfirma. Bezahlt wurde die Veranstaltung von zwei Bonner Ministerien (BMFT, BMWi). Es war die Zeit der ersten Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (SPD).

Ich schloss mich der Arbeitsgruppe Telekooperation und Telearbeit an. Als Vorarbeit wurden so genannte ‚Initial Findings‘ präsentiert aus einer Befragung von etwa 800 Experten (Delphi-Studie). Unsere Aufgabe war es, endgültige Empfehlungen für die Geldgeber abzugeben. Durch die Befragungsergebnisse waren wir natürlich sehr stark gebunden. Wir konnten nur noch die Schwerpunkte geringfügig verschieben und Ratschläge bezüglich der von der Politik zu ergreifenden Maßnahmen geben. Da es fast 13 Jahre her ist, verletze ich keine Geheimhaltungsverpflichtungen, wenn ich einige der Aussagen wörtlich zitiere.

Die Telearbeit hat eine Flexibilisierung von Arbeitszeiten zur Folge. Die bisher (durch das Arbeitsrecht) geschützten Arbeitsverhältnisse werden durch neue Formen der Selbständigkeit abgelöst. Das gesamte Angebot an Arbeit wird global verteilt. Das führt zu einer Umwandlung der Struktur der Unternehmen. Die meisten Firmen werden nur aus einem kleinen Kern ortsgebundener Festangestellter bestehen. Sie werden von einer Sphäre fremdvergebener Dienste und Funktionen ergänzt.

Die Führung erfolgt durch den kleinen Kern, der die Geschäftspolitik und die Produktstrategien festlegt. Der Kern kümmert sich um Kundenbeziehungen. Er kontrolliert die Kundendaten, die proprietären Produktelemente sowie das Netz-Management. Der Kern wird ergänzt am unteren Ende von Dienstleistern, die Routinearbeiten durchführen (Produktion, Versand, Abrechnung, usw.). Diese Arbeiten werden zunehmend computerisiert. Die Folge sind fallende Gehälter der Dienstleister. Eine andere Form der Fremdvergabe erfolgt am oberen Ende. Hier sind Spezialisten gefragt. Sie erzielen sehr hohe Gehälter. Allerdings müssen sie eine zeitweise Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen. Für ihre Weiterbildung sind sie selbst verantwortlich. Zu erwarten ist eine Renaissance mittelalterlichen Gilden und Zünfte.

Auch in den Firmenkernen wird vorwiegend projektorientiert gearbeitet. Es gibt kaum noch lebenslang Beschäftigte. Das Wort Telearbeit verschwindet, da alle Mitarbeiter in irgendeiner Form Telearbeit leisten. Ein neues Phänomen werden die Teilzeit-Rentner sein. Sie arbeiten schon früh einen Teil der Zeit für sich selbst. Im Alter müssen sie arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Soweit die Aussagen von 1999. Heute redet man in der Tat nicht mehr über Telearbeit, da sie ein alter Hut ist. An die Stelle von Rechenzentren und Timesharing-Diensten sind die Computer-Wolken (engl. computer clouds) getreten. Nicht nur computer-basierte Dienste lassen sich als Wolke abstrahieren. Dasselbe gilt auch für Beratungs- und Programmierdienste, aber auch für fachliche Kompetenzen (engl. talents) jeder Art.

Die durch die Presse (etwa Handelsblatt oder Spiegel 6/2012) unter dem Begriff ‚Talent cloud‘ (deutsch: Talentwolke) bekannt gewordenen Pläne der Firma IBM haben kürzlich für lebhafte Diskussionen gesorgt. Als international tätiges Unternehmen liegt für sie der Vorteil des ‚dislozierten‘ Angebots auf der Hand. Im weltweiten Pool lässt sich nicht nur schneller ein Abgleich zwischen Angebot und Nachfrage finden als im rein lokalen Markt. Es können auch bessere Lösungen erzielt werden, und zwar für beide Seiten. Der Nachfrager kommt gleich zu einem Profi, zu jemandem mit Vorkenntnissen und Spezialtalenten. Die sonst oft erforderliche Einarbeitungszeit kann gespart werden. Der Anbieter muss nicht reisen oder gar den Wohnsitz wechseln. Er kann an einem Ort wohnen bleiben, wo die Lebensqualität höher und die Preise niedriger sind als in einem Ballungszentrum. Viele dieser Aspekte sind aus ökologischer Sicht von Nutzen, aber auch aus familienpolitischer Sicht.

Bei so eklatanten Vorteilen gibt es auch Nachteile, also einen Preis. Nicht jede Arbeit ist für eine Auslagerung (engl. outsourcing) oder gar für Heimarbeit geeignet. Es müssen viel mehr Dinge im Voraus explizit vereinbart werden. Die Kommunikation kann verkümmern oder ganz zusammenbrechen. Dann wird die Kontrolle des Fortschritts und der Qualität schwierig. Versagt ein Partner oder Lieferant, wechselt man zum nächsten – natürlich mit entsprechendem Zeitverlust. Das Risiko, dass die Aufträge geringer sprudeln als erwartet, oder dass sie ganz wegbleiben, trägt nicht mehr das Unternehmen selbst sondern die freischaffenden Hilfstruppen.

Was über die Firmenstruktur vorhergesagt wurde, erleben wir bereits bei vielen Firmen als Alltag. So ist die Firma Apple nur noch Entwurfs- und Vertriebsbüro. Sie beschäftigt mehrere 100,000 Leute in chinesischen Firmen. Sie selbst hat weniger als 50.000 Mitarbeiter in Amerika und Europa. Im Software-Bereich spielt Indien die Rolle der verlängerten Werkbank für Firmen wie IBM und SAP. Allerdings handelt es sich in beiden Fällen nicht um Partner sondern um Tochterfirmen, mit denen kooperiert wird. Ein viel zitiertes Modell stellt TopCoder dar. Nach eigenen Angaben beteiligten sich bisher etwa 400.000 Programmierer an den von dieser Firma vermittelten Projekten. Sie selbst hat weniger als 300 Beschäftigte. Es liegt nahe, dass man für die Anbieter auch ein Bewertungs- oder Zertifizierungssystem schafft.

Es ist keine Frage, dass Beratungsdienste jeder Art im Internet eine große Rolle spielen – seit Anbeginn. Das betrifft Probleme an Haushaltsgeräten und Computern und endet mit Diätempfehlungen. Nur bei medizinischen Fragen geht man besser zum Hausarzt. Sowohl bei der Telekom wie bei allen bekannten Computer-Firmen ist die Online-Beratung unverzichtbar. Bei nicht produktbezogenen Problemen wende ich mich normalerweise, telefonisch oder per Internet, an einen freundlichen Ex-Kollegen. Als er einmal verreist war, versuchte ich mein Glück bei einem standardisierten Vermittlungsdienst. Er brachte mich in Kontakt mit einem Experten, der mein Problem löste, d.h. der mir den richtigen Tipp gab, wo ich suchen sollte. Der Experte verbesserte sein Einkommen, abhängig von meiner Bewertung seiner Dienstleistung. Für mich war er vorher völlig unbekannt. Es lohnte sich auch nicht, sich seinen Namen und seine Adresse zu merken. Er war Teil einer Wolke wie der Pannenhelfer des ADAC.

Die zuletzt genannten Beispiele deuten darauf hin, dass das Wolken-Modell vielleicht nur adäquat ist für Leistungen, die von Einzelpersonen erbracht werden können. Es passt auch für Leistungen, die mit geringem Kapitaleinsatz möglich sind. Dazu gehören viele professionelle Dienste, etwa die von Diätberatern, Steuerhelfern und Anwälten. Auch Unternehmensberater sind vielfach Einzelexperten. Das Modell passt weniger gut für medizinische Operationen und Autoreparaturen. Den Hausbau oder den Maschinen- und Fahrzeugbau überlässt man lieber eingespielten Teams, also längerfristig bestehenden Zusammenschlüssen. Es ist und bleibt das Betätigungsfeld von Unternehmen. Auch die Entwicklung größerer Software-Systeme fällt meistens in diese Kategorie. Das lässt sich nicht ignorieren, obwohl die Einzelkämpferkultur der quelloffenen Systeme (engl. open source) viel von sich reden macht.

Der Weg zur Talentwolke macht in sehr vielen Situationen durchaus Sinn. Die vom Internet vermittelten Fachkräfte haben für beide Seiten Vorteile, den Anbieter wie den Nutzer. Wie viele andere Modelle setzt er normale wirtschaftliche Verhältnisse voraus, also gutes Wetter. Er versagt, sobald nicht genügend Nachfrage vorhanden ist, oder wenn nicht die richtigen Talente angeboten werden. Der Aufbau neuer Fachkompetenzen erfolgt nicht zeitlos. Der Bedarf kann sich schneller ändern, als Leute umgeschult werden können. Auch kann nicht jeder alles lernen. Die Konsequenz daraus ist, dass sich eine Schere bildet zwischen den schnellen und anpassungsfähigen Mitbürgern und den langsamen und verharrenden. Das ist ein nicht zu ignorierendes soziales Problem.

Es gehört leider zu den kritikwürdigen Aspekten unserer Gesellschaftsform, dass die private Wirtschaft sehr schnell zur Stelle ist, wenn es darum geht, Vorteile auszunutzen und daraus sich ergebende Gewinne einzustreichen. Für die Nachteile und die Reparatur eventuell angerichteter Schäden schaut man gerne auf andere.

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