Samstag, 26. Januar 2013

Lösen nur Entinformatisierung und Entnetzung das Sicherheitsproblem?

Im heutigen Titel greife ich zwei Wortschöpfungen von Sandro Gaycken auf aus seinem 2012 erschienenen Buch Cyberwar. Gaycken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Informatik der Freien Universität Berlin. Sein Studiengebiet heißt ‚Cyberwarfare‘, also der Krieg im Netz. Er ist vermutlich ein selbsternannter und sich nur selbst verantwortlicher Experte. Er ist sicherlich kein dienstverpflichteter Sicherheitsbeauftragter, noch ist er aktiver Infokrieger oder Feldinformatiker. Letzteres ist auch eine seiner Vokabeln, an die ich mich noch gewöhnen muss. Jedenfalls hat er ein sehr spannendes Arbeitsgebiet. Zurzeit berät er  ‒ nach eigenen Angaben ‒ den Deutschen Bundestag, mehrere Ministerien, die NATO, die G8 und die EU. Wenn das keine Empfehlung ist!

Schlachtfeld Cyberkrieg

In Endres/Gunzenhäuser (2010, S. 45-47) wurde das Thema Cyberkrieg nur kurz angesprochen. Folgende Zeilen seien ins Gedächtnis gerufen:

Das Wort Cyberkrieg ist eine Verkürzung für Krieg im Cyberspace, also einer Auseinandersetzung in dem von Computernetzen gebildeten virtuellen Raum. Täglich bilden die Rechner von Regierungsstellen in vielen Ländern der Welt das bevorzugte Ziel von Hunderten von Angriffen. In den USA sind es etwa Tausend solcher Attacken pro Tag.…Die Eindringlinge versuchen nicht nur, an sicherheitsrelevante Informationen zu gelangen – also Spionage zu betreiben –, sondern konzentrieren sich oft auch darauf, den Computer-Betrieb von wichtigen Informatiksystemen durch Service-Blockierer lahm zu legen (engl. Denial of Service Attacks). Die zunehmend weltweit operierenden Eindringlinge können aber auch die Kontrolle über ein System übernehmen und es so einsetzen, dass dem Opfer auf vielerlei Art Schaden entsteht. Schließlich kann man absichtlich Informationen verfälschen, etwa um Flugzeuge oder Schiffe von ihrem Kurs abzubringen….Alle kriegerischen Konflikte der letzten Jahre waren von Cyberkrieg-Aktionen begleitet, so der Kosovo-Krieg, der erste Golfkrieg, der Irak- und der Afghanistankrieg, aber auch der Georgienkrieg des letzten Jahres. Uns allen müsste der massive Angriff auf unser EU- und NATO-Partnerland Estland im Mai 2007 noch im Gedächtnis sein. … Hätte die NATO diesen Cyber-Angriff als Krieg aufgefasst, wäre sie zum Beistand verpflichtet gewesen….

Die USA sind mit großem Abstand das Hauptziel aller Cyber-Angriffe. Die Gründe sind offensichtlich. Die Informatisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ist dort sehr weit fortgeschritten. …Als bedrohende Länder gelten aus amerikanischer Sicht heute vor allem Cuba, China, Iran, Nordkorea und – bis vor kurzem – Libyen. Bedroher Nummer Eins ist jedoch der internationale Terrorismus, der sich vor allem mit dem Namen Al Qaida verbindet. Viel breiter wird das Feld dieser Bedroher, wenn man die Gefahren, die für Industriekonzerne und private Firmen bestehen, dazu rechnet. …Jede aktive Strategie, die ein Land auf diesem Gebiet ergreift, hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zunächst geht es um die Abwehr einer Gefahr, die im Bewusstsein der breiten Bevölkerung nur eine untergeordnete Bedeutung einnimmt (etwa im Vergleich zur Kinderpornografie oder zur Schweinegrippe). ... Die Augen zu verschließen oder absichtlich im Paradies des Unwissens und der Unschuld zu verweilen, kann teuer zu stehen kommen….Es gibt nur sehr wenige offen zugängliche Publikationen. Manches was es gibt, ist entweder sehr unspezifisch oder längst veraltet. 

Wenn man diese Zitate liest, fällt auf, dass ein Land, nämlich Russland, in den letzten Jahren in zweierlei Hinsicht an Bedeutung gewonnen hat. Es ist sowohl Bedroher als auch weltweiter Lieferant von Abwehrmitteln geworden, insbesondere von Software.

Aktuelle Frontberichte

Das Buch von Gaycken scheint die Publikationslücke füllen zu wollen. Wenn es auch den Vorwurf nicht ganz loswerden wird ‚unspezifisch‘ zu sein, kann es zur Weckung des Bewusstseins beitragen. Ebenso tat dies die 3sat-Fernsehsendung von Gert Scobel vom 24.1.2013 mit dem Titel Cyberwar – das digitale Schlachtfeld. Als Teilnehmer der Sendung trug Gaycken die Information bei, dass heute etwa 120 Länder sich aktiv mit Abwehr- bzw. Angriffsmaßnahmen befassen. Selbst der Sultan von Brunei sei bereit, sich eine Kapazität für Cyberkrieg zuzulegen. Die Professionalisierung der Werkzeuge habe zugenommen. Die derzeit im Umlauf befindliche Schad-Software mit dem Namen ‚Flame‘ benutze im Vergleich zu Stuxnet eine Art Plattform, um die Produktivität der Entwicklung zu steigern. Es sind nicht mehr nur Halbstarke und Kleinkriminelle, die das Geschäft betreiben. Wenn Ziele verfolgt werden, bei denen es nicht primär ums Geld geht, dann sind eher ideologische Gruppierungen, politische Organisationen oder Staaten als Täter zu vermuten und nicht Wirtschaftsunternehmen oder Verbrecher-Kartelle. Die deutsche Politik zögerte etwas lange, ehe sie das Problem ernst nahm. Inzwischen hat das Cyber-Abwehrzentrum des Bundes etwa 150 Mitarbeiter. Ähnlich wie bei dem Konflikt in Afghanistan wird noch diskutiert, ob die Redewendung vom Cyberkrieg nicht zu martialisch sei. Nach wie vor ist es ein großes Problem, den Angreifer zu identifizieren (Attributionsproblem genannt). Er hat es sehr leicht seine Identität zu verdecken. 

Es scheint überhaupt eine Eigenart dieser Wissenschaft zu sein, dass sie von einzelnen (Kriegs-) Geschichten lebt. Wie in der Kriminalistik scheint es auch hier sehr schwer – wenn nicht unmöglich – zu sein, am Schreibtisch alle theoretisch möglichen Fälle zu durchdenken. Umso wichtiger und ergiebiger ist die Forensik. Man versteht darunter die systematische Identifizierung und Analyse krimineller Handlungen. Es ist die empirische Methode, die Vorrang genießt.

Täter und Opfer, Krieger und Beobachter

Manche Angreifer wollen möglichst viel Sichtbarkeit, andere nicht. Nicht die lauten Angreifer sind die größte Gefahr. Es sind die leisen. Die Regel ist, wer etwas Bedrohliches tut, tut es geheim. Auch hängen Opfer ihre Fehler ungern an die große Glocke. Man will weder den Angreifern noch den Kunden eingestehen, dass man Schwächen in punkto Sicherheit hat. In der ganzen Branche herrscht daher ein Mangel an Präzision. Das gilt in besonderem Maße für die akademische Seite. Das Geld, das hier unter dem Deckmantel der Forschung ausgegeben wird, hat zumindest den Nutzen, dass eine minimale Ausbildungskapazität aufgebaut wird. Stärker als auf jedem anderen Fachgebiet vermitteln hier Lehrbücher das Wissen von Gestern.

Waren die Netztüftler bisher als Außenseiter oder Hacker verschrien, die teilweise einer Passion nachgingen und vorwiegend auf eigene Rechnung arbeiteten, scheint dies sich gerade zu ändern. Hacker werden jetzt in zunehmendem Maße von staatlichen Stellen gesucht und angestellt, vielleicht sogar mit Aussicht auf Beamtenpension. Aus Gayckens oben erwähnten Buch lernte ich, dass die USA und Israel derzeit je 500 Hacker haben, die für den Staat arbeiten, China dagegen 150.000. China soll die staatliche Überwachung auf die Spitze getrieben haben. So sollen in der Stadt Szenzhen programmgesteuerte Kameras die Polizei alarmieren, wenn irgendwo mehr als zwei Leute zusammenstehen.

Das Geschäft mit der IT-Sicherheit ist schwierig und sensibel. Es ist daher kein Wunder, dass ein Guru wie Sandro Gaycken seine Leistungen auch nur indirekt anpreist. Es sind Hunderte von Vorträgen und Gesprächen, auf die er verweist. Die Vertreter der Wirtschaft haben es schwer, überhaupt Glauben zu finden. Ihnen wird grundsätzlich Parteilichkeit unterstellt. Viele der freischwebenden Aktivisten sind Ideologen. Sie reiten ein Hobby, um nicht zu sagen, einen apokalyptischen Höllenhund.

Einen wichtigen Denkanstoß will Gaycken mit der Frage geben, ob unsere elaborierten Datenschutz-Maßnahmen unser Land sicherer machen gegen die Wiederkehr eines totalitären Systems. Zu glauben, dass Datenschutz wirkliche Anti-Demokraten aufhalten würde, hält er für abwegig. Sobald sie an der Macht sind, können sie in kürzester Zeit nachrüsten. Bei vielen Dingen, die helfen würden, scheint ein Kollateralopfer das freie Internet zu sein. Er hütet sich daher präzise zu sein. Falls er etwas Unpassendes sagen würde, bräche nämlich sehr leicht die Hölle los (auf neudeutsch: ein ‚Shit storm‘).

Umkehr lieb gewonnener Trends oder nicht?

Statt alle Aspekte des Cyberkriegs zu vertiefen, will ich auf die Titelfrage zurückkommen. Anders ausgedrückt, gibt es radikale Maßnahmen, die das Problem vollkommen lösen und trotzdem funktionieren, oder geht dies nur, wenn wesentliche Umstände sich ändern?

Informatisierung und Vernetzung sind zwei markante Trends in unserer modernen Gesellschaft. Sie wirken vor allem in den Industrieländern, aber nicht nur in diesen. Nach Horx sind sie Teilaspekte des Megatrends Konnektivität. Die Informatisierung bewirkt, dass wir über alle Mitglieder und Gruppierungen der Gesellschaft sehr gut informiert sind, aber auch über ihre Beziehungen und Aktivitäten. Es schließt die Umwelt und die Welt der Dinge und Ideen mit ein. Anstatt physischer Güter werden immer mehr Informationen ausgetauscht. Das wird ermöglicht von einem hohen Grad der Durchdringung mit Informatik und Informationstechnik. Die Vernetzung gestattet es, dass wir Informationen zeitnah und in großen Mengen austauschen können. Wir verdanken dies vor allem den Fortschritten in der Telekommunikationstechnik. Werden diese beiden Begriffe mit der Vorsilbe 'Ent' versehen, ist damit gemeint, dass der entsprechende Trend umgekehrt und das bisher Erreichte rückgängig gemacht wird.

Gaycken stellt die im Titel wiedergegebene Frage nur rein hypothetisch und gibt selbst keine Antwort. Er gibt lediglich eine Richtung an, indem er sagt, dass unsere Systeme stärker dezentralisiert und heterogenisiert werden müssten. Auch das erfordert ein erhebliches Umdenken. Mir erscheint, dass damit viele uns fast zur Selbstverständlichkeit gewordene Prinzipien auf den Kopf gestellt werden. Mir ist nämlich nicht klar, wie aus Wildwuchs und Unverträglichkeit ein Vorteil entstehen kann. Sind sie jedoch mangels Kommunikation und Koordination einmal entstanden, ist es schwer, sie wieder zurückzudrängen und zu überwinden.

Auf Verständnis stößt Gaycken bei mir am ehesten noch mit dem folgenden Gedankengang. Wir müssten hinterfragen, ob die Gleichung  ‚Mehr Information = mehr Wissen‘ immer stimmt und ob mehr Wissen immer gut ist. Da merkt man einen philosophischen Hauch. Auch der Rückbau gewisser technischer Errungenschaften kann Fortschritt sein. Das Problem ist, dass wir keine Ersatztechnik haben. Vollkommen treffen sich unsere Ansichten, wenn er sagt: Wir sind pfadabhängig, d.h. wir sind bereits zu weit in einer Richtung fortgeschritten, es gibt nur noch den Weg vorwärts. Im Grunde also, viel Grübeln ohne klare Antwort.

Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, weiterhin nach technischen Lösungen zu suchen. Nur dürfen wir nicht zu viel von ihnen erwarten. Es werden Kompromisse sein müssen. Alle Maschinen vom Netz zu nehmen, ist sicherlich der falsche Weg. Nach einem Bericht des IEEE Spectrums von letzter Woche arbeiten amerikanische Stellen daran, auch in Rechner einzudringen, die nicht an einem Datennetz angeschlossen sind. Das Abhören von Rechnern war schon vor 30 Jahren möglich, wenn elektromagnetische Abstrahlung nicht durch einen speziellen Metallmantel unterbunden war. Jetzt denkt man darüber nach, wie man ausführbaren Code in einen Rechner übertragen kann, zum Beispiel von einer darüber fliegenden Drohne aus. Gegen derartige Pläne müssten eigentlich Internet-Puristen und Datenschützer längst auf allen Straßen der Welt protestieren. Die Piratenpartei hingegen könnte es eher zu zustimmenden Äußerungen anspornen. Damit wäre endlich die volle Offenheit aller Datenbestände technisch erzwingbar.

Sehr viel Hoffnung verbinde ich mit organisatorischen und strukturellen Maßnahmen. So hat es die Firma Apple geschafft, dass Viren-Problem für ihre mobilen Geräte weitgehend zu lösen. Ihr Weg hieß, zurück zu einem geschlossenen System. Alle Anhänger offener Systeme, und das ist ‒ nach der Lautstärke gerechnet ‒ die Mehrheit aller Fachleute, hielten Apples Entscheidung für falsch. Der unglaubliche Markterfolg sowohl des iPhones wie des iPads ließ die Kritiker verstummen. Jahrzehntelang gaben Pessimisten den Ton an, die vorhersagten, dass die Informationstechnik am Viren-Problem zugrunde gehen könnte. Das Viren-Problem ist das Grundproblem des Cyberkriegs. Das Beispiel zeigt, dass es sowohl Beharrlichkeit als auch Intuition erfordert, um zu akzeptablen Lösungen zu gelangen, die funktionieren. Nur das Bohren von dicken Brettern hilft – um es bildlich auszudrücken. 

Samstag, 19. Januar 2013

Neandertaler und die Paläogenetik

Die Wissenschaftssendungen des Gert Scobel bei 3sat sind fast immer ein Genuss. Die Sendung am Donnerstag, den 17.1.2013, war da keine Ausnahme. Das Thema hieß Paläogenetik. Das ist ein neues Wort, bestehend aus zwei Begriffen, deren Kombination etwas überrascht. Die Paläontologie erforscht Lebewesen vergangener Erdzeitalter. Die Genetik ist die Vererbungslehre, ein Teilgebiet der Biologie.

Der Gesprächspartner, auf den ich besonders gespannt war, war der Schwede Svante Pääbo. Er gilt als Begründer der Paläogenetik und ist derzeit in Leipzig tätig. Als Doktorand klonierte er 1985 erstmals die DNA einer ägyptischen Mumie. Pääbo hat inzwischen außer für den Neandertaler auch für den Denisova-Menschen das Genom sequenziert. Das ist zwar eine andere Menschenart, aber entfernt verwandt mit dem Neandertaler. Die nordamerikanischen und australischen Ureinwohner haben etwa 1% Neandertaler-Gene. Die heutige Lehrmeinung ist, dass alle Menschen miteinander verwandt sind. Sie haben ihre Gene gemischt. Vermutlich wird es auch die 250.000 Jahre alte Steinheimerin (auch Heidelberg-Mensch genannt) getan haben. Wir haben es nicht mehr mit ein oder zwei Linien von Vorfahren zu tun, sondern einem ganzen Busch, meinte der ebenfalls an der Sendung teilnehmende Friedemann Schrenk vom Senkenberg-Museum. Die Daten des Denisova-Menschen sind inzwischen sehr zuverlässig und mehrmals überprüft. Sie stammen von drei verschiedenen Skeletten aus einer Höhle im Altai-Gebirge.

Sehr interessant ist, dass die Idee der egoistischen Gene der Vergangenheit angehört. Mit einem Buch gleichen Namens konnte 1976 der Engländer Richard Dawkins Bestseller-Erfolge erzielen. Die Gegenmeinung wird am klarsten von Martin Nowak vertreten, einem Österreicher am MIT, der uns in einem früheren Blog-Eintrag bereits begegnete. Nach seiner Ansicht beruht nicht nur die Entwicklung des Menschen, sondern die ganze Evolution auf genau dem gegenteiligen Prinzip. Wenn man fragt, warum die Evolution immer mit Komplexität einhergeht, kann das nur daran liegen, dass Kooperation erfolgreicher ist als Konkurrenz. Menschen sind sogar ‚Superkooperateure‘. Sie nutzen nicht nur das Prinzip der direkten Reziprozität (‚Wie Du mir, so ich Dir‘), sondern auch das der indirekten Reziprozität. Das ist nur möglich dank Sprache; man benötigt einen guten Ruf. Daneben gibt es den Zusammenhalt innerhalb der Verwandtschaft oder zwischen Gesinnungsgenossen (Hier kommen – wenn man böswillig ist ‒ Religionen, Ideologien und Lehrmeinungen nebst zugehörigen Fundamentalisten ins Spiel).

Bei den Zellen aller Lebewesen gibt es diese Kooperationsbereitschaft auch. Sie teilen sich, wenn das der Gruppe von Zellen nützt. Eine Ausnahme bilden die Krebszellen. Sie betreiben noch reinen Egoismus. Die grabenden Paläologen haben auch nie an den Menschen als Raubaffen geglaubt. Schon frühe Hominiden verringerten ihre Eckzähne schon vor sieben Millionen Jahren.

Die Out-of-Africa-Theorie findet immer mehr Argumente. So gibt es mehr genetische Variationen des Menschen in Afrika als im Rest der Welt. Es gibt - erstaunlicherweise - weniger genetische Vielfalt bei sieben Milliarden Menschen als bei 250.000 Großaffen. Bei der genetischen Entwicklung des Menschen gab es immer wieder Flaschenhälse. Die Fortentwicklung wurde eingeschränkt auf etwa 10.000 Individuen. Auslöser dafür können Pandemien oder Naturkatastrophen gewesen sein. Die Mutationsrate scheint relativ konstant zu sein. Die Reproduktionsphasen (Dauer der Gebärfähigkeit) oder die Reproduktionskraft (Kinderzahl) haben öfters variiert.

Die kulturelle Entwicklung des Menschen hinterließ Spuren im Genom. Man spricht daher von Ko-Evolution. Das bekannteste Beispiel ist die Milchzuckerunverträglichkeit, auch Laktose-Intoleranz genannt. Sie wurde zuerst vor 8000 Jahren von einer Handvoll anatolischer Bauern überwunden. In Europa dauerte es 3000 Jahre, d.h. bis zum Ende der Bronzezeit, bis sich ein mutiertes Gen (LCT) in einer größeren Population „durchgesetzt“ hatte, weil es einen evolutionären Vorteil bot. Auch in afrikanischen Ländern mit Rinderkulturen finden sich große Populationen mit Milchzuckerverträglichkeit. In asiatischen Ländern verträgt 90% der erwachsenen Bevölkerung bis heute noch keinen Milchzucker.  

Die Epigenetik erforscht vor allem heutige Entwicklungen. So hat man bei Mäusen festgestellt, dass sie per Änderungen im Erbgut auf Stress reagieren. Darwins großer Gegenspieler Lamarck ist inzwischen voll rehabilitiert. Sein Beispiel waren die Giraffen, denen die Hälse wachsen, wenn Bäume ihre Blätter nur da ansetzten, wo die letzte Generation von Giraffen nicht hin kam. Man kann die Frage stellen, welche unserer vielen jetzigen Krisen sich genetisch auswirken wird.

Von den 23.000 Genen des Menschen sind rund 1% verschieden von den Primaten. Es sind diejenigen, die das Handgelenk und die Größe des Gehirns bestimmen. Ein-eiige Zwillinge unterscheiden sich im Genom. Es variieren bis zu 10% der Gene bezüglich ihrer Herkunft vom Vater oder von der Mutter. Ein 25-jähriger Vater hatte 25 Mutationen hinter sich, ein 50-jähriger vererbt bereits 50 Mutationen. Das sind absolute Werte, bezogen auf mehrere Milliarden von Basenpaaren. Die Weisheitszähne werden die Menschen bald ganz verlieren, ebenso zwei Schneidezähne. Was relativ schnell variiert, sind die Haar- und die Hautfarbe. Das ist ein weiterer Grund, warum Ethnozentrismus, also die Voreingenommenheit einer ethnischen Gruppe gegenüber allen anderen, Unsinn ist. Auch die in diesem Zusammenhang geäußerte Idee, einen Neandertaler zu klonen, ist nicht nur unethisch, es ist auch kaum möglich. Anders ist es mit einzelnen Fähigkeiten, die als wünschenswert gelten, z.B. gewisse Immunitäten. 

Die drei Begriffe, die hier eine Rolle spielen, seien noch kurz erläutert. Mit Sequenzieren ist gemeint, dass man die in kleinen Schnipseln aufgefundenen DNA-Abschnitte zu einem zusammenhängenden Strang zusammenfügt. Es ist eine Art von Kartierung und entspricht der Wiederherstellung eines Bildes aus Fragmenten. Mit Klonieren ist die Herstellung identischer DNA-Moleküle gemeint. Im Gegensatz dazu versteht man unter Klonen die Wiedererweckung zum Leben, also die Erzeugung ganzer Organismen. Die DNA wird dabei einer Eizelle eingepflanzt und diese von einer Leihmutter ausgetragen.

Heute geht die so genannte sozio-kulturelle Evolution schneller als die biologische. Gemeint ist damit die Weiterentwicklung des Menschen durch Übertragung von Wissen und Können von einer Generation auf die nächste. Die soziale Evolution verfügt über ganz andere Transportmöglichkeiten zum Übertragen von Information als die biologische, vor allem Sprache und Schrift. Mit immer mehr Wissen über unsere Vergangenheit ausgestattet, ist es nahe liegend, auch über die Zukunft des Homo sapiens zu spekulieren. Die Wissenschaftler überlassen das am liebsten der Literatur oder dem Kino. Sehr hervorgetan haben sich Autoren wie H G Wells und Michel Houellebecq. Ihre Warnungen können nicht schaden.

Zweifellos gibt es hier eine Menge Stoff, über den nachzudenken sich lohnt. Dass gerade die Biologie dazu anregt, kommt daher, dass sie heute zu der empirischen Wissenschaft par excellence geworden ist. Die Fülle der Einsichten, die sie vermittelt, kompensiert für die scheinbar fehlende mathematische Strukturiertheit und die nicht ausgeprägte logische Klarheit.

Samstag, 12. Januar 2013

Peer Steinbrück – Merkels bester Wahlhelfer

Die Spiegel-Titelgeschichte des letzten Wochenendes listete all die Patzer auf, die Steinbrück sich seit seiner Ausrufung zum Kanzler-Kandidaten der SPD geleistet hat. Er redet nicht nur unüberlegt, ignoriert dabei die Gefühle seiner eigenen Parteigenossen und ‒ ein typischer Managementfehler ‒ er legt sich die falschen Berater zu. Die Quintessenz: Schon neun Monate vor der Wahl ist er ein Nicht-Kandidat. Ich stimme mit der Schlussfolgerung voll überein, finde aber, dass einige Gründe zu wenig betont wurden.

Jedermann hat das Recht, sein Ego auszuleben, auch Herr Steinbrück. Er darf sich als Clown aufspielen oder als Raufbold präsentieren. Es ist dies ein Recht, das man niemandem wegnehmen kann. Niemand ist gezwungen, sich zu verbiegen. Von Vielfalt und Farbigkeit lebt die Demokratie. Wer Leute überzeugen will, dass er geeignet ist, 80 Millionen Landsleute diplomatisch zu vertreten, oder eine Mittelmacht wie Deutschland zu führen, muss allerdings etwas anderes hervorheben. Es geht schließlich darum, sich für den anspruchsvollsten Job in diesem Lande ‒ wenn nicht sogar in ganz Europa ‒ zu bewerben. Wer sich in dieses Abenteuer stürzt, tut es aus freien Stücken oder aus Liebe zu einer Partei.

Nur jemand, der diesen Unterschied nicht zu kennen scheint, darf sich über fallende Umfragewerte wundern. Es lässt sogar vermuten, dass es noch mehr ähnliche Defizite gibt, die für den Job eines Bundeskanzlers ein Risiko darstellen, die er sich jedoch nicht eingestehen will. Auf die Presse zu schimpfen, oder sogar das Volk für dumm zu erklären, ist gefährlich. Dass Steinbrück dies nicht tut, verrät, dass Sensibilität für ihn kein Fremdwort geblieben ist.

Wie auch der Spiegel bemerkte, verwechselt Steinbrück möglicherweise die Zustimmung, die ihm bei Autorenlesungen und Beratergesprächen zufloss, mit einer Bewertung seines Charakters. Krimiautoren, Karikaturisten sowie Anlagen- und Versicherungsberatern passiert das nicht. Auch ich habe ihn nach einem Vortrag beklatscht. Er hatte die gestellte Aufgabe glänzend gelöst. Er hatte etwa hundert, vorwiegend gut situierte Rentner glänzend unterhalten. Dass er dabei auf seine eigene Partei losdrosch, wurde sogar als besonders unterhaltsam gewertet. Unter den Zuhörern waren vermutlich nur sehr wenige potentielle SPD-Wähler.

Über die für einen Kanzler nötige Qualifizierung kann man streiten. Lange glaubte man, es müssten Juristen oder Ökonomen sein. Gerade zeigt eine Physikerin, dass die naturwissenschaftliche Ausbildung noch sehr viel gesunden Menschenverstand übrig lassen kann. Wie Ronald Reagan bewies, kann ein Schauspieler sogar US-Präsident werden, vor allem dann wenn er vorher die Schauspieler-Gewerkschaft geleitet hat. Worüber die Wähler sich vor einer wichtigen Wahl klar zu werden versuchen, ist die Frage, mit welcher Persönlichkeitsstruktur wir es bei dem Kandidaten zu tun haben. Dabei versucht man, von einem Teil der Persönlichkeit auf die ganze Persönlichkeit zu schließen. Schlecht ist es, wenn statt Vertrauen, das jeder Kandidat als Vorschuss erhält, Misstrauen entsteht. Die Grenze, wo dies geschieht, liegt bei jedem Betrachter anders.

Für On-the-job-training möchten die Leute diesen Job nicht primär verwenden. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Da keine noch so gute Ausbildung oder vorbereitende Praxis ausreichen, um mit allen Situationen fertig zu werden, in die dieses Amt einen bringen kann, sucht man nach Charakterzügen, die einen beruhigen. Wie würde er Krisen bewältigen oder mit Leuten umgehen wie Putin und Obama, wie mit Cameron, Hollande und Monti, oder mit Ländern wie Griechenland und Somalia? Es ist nicht allein Weisheit, die gefragt ist. Abgesehen davon, dass eigentlich nur Greise sie in nennenswertem Umfang besitzen, werden auch andere Eigenschaften gesucht. Ich nenne nur einige: Ausdauer, Ausgeglichenheit, Empathie, Geduld, Pragmatismus, Realismus und Toleranz. Das sind alles Tugenden, die man (noch) nicht mit Steinbrück verbindet. Die beste  Wahlkampfstrategie, die Angela Merkel befolgen kann, ist gar nichts zu sagen. Da dies nicht geht, sollte sie über die Kochkünste von Herrn Professor Sauer schwärmen. Das Volk lechzt danach, endlich mehr darüber zu erfahren. Herr Sauer ist Frau Merkels Ehemann.

Dass auch Politiker sich umorientieren können, fällt an dem Beispiel des Guido Westerwelle auf. Noch sind beide, Steinbrück und Westerwelle, auf gleichem Popularitätsniveau, der eine auf dem Weg nach unten, der andere auf dem Weg nach oben. Dabei gilt, runter geht schneller als rauf. Sollte Steinbrück verärgert den Kram hinschmeißen, käme wohl der Steinmeier dran. Der hätte den großen Vorzug, dass er sein diplomatisches Training bereits absolviert hat. Nur hatte er Steinbrück gegenüber zwei offensichtliche Schwächen und trat deshalb zunächst einen Schritt zurück. Er langweilt die Zuhörer mit seinen Reden und er hört auf seine Frau. Der dritte im Bunde der Ex-Kandidaten, der Parteivorsitzende Gabriel, ist ein Charakter wie Steinbrück aber noch ohne die Erfahrung eines wichtigen Bundesministeriums.

Im Übrigen: Sollten wir im Herbst eine große Koalition bekommen – was sich die Mehrheit der Wähler ohnehin wünscht – dann hätte Steinbrück gute Chancen, wieder einen Job zu bekommen. Wie vor fünf Jahren ließe er sich von der Kanzlerin leicht einzäunen oder zähmen. Dass er diese politische Konstellation für uninteressant erklärt, spricht nicht für ausgeprägten Realitätssinn. Ob er in einer rotgrünen Regierung mit der SPD an der Spitze landen wird, ist fraglich. Die Partei kann sehr leicht zum Juniorpartner absinken, so wie dies in Baden-Württemberg geschehen ist. Dann könnte er noch Wirtschaftsminister werden. Das ist ein Job, in dem Praktikanten wie Rösler und Sprücheklopfer wie er nur geringen Schaden anrichten können. Nochmals Finanzminister sollte er nicht werden. Das wäre ein Affront gegenüber der Schweiz. Zum Glück steht Jürgen Trittin für diesen Job bereits bereit. Vielleicht kann der sogar schon ‚Grüezi‘ sagen.

Freitag, 11. Januar 2013

Von Naisbitt zu Horx: Megathema Zukunft voll im Trend

Der amerikanische Politikwissenschaftler und frühere IBM-Mitarbeiter John Naisbitt setzte 1982 den Begriff der Megatrends in die Welt. Sein Buch gleichen Namens wurde in 57 Ländern veröffentlicht. Naisbitt lebt heute in Wien und Tianjin (China). Es gab mehrere Folgeveröffentlichungen, etwa die mit den Titeln Megatrends Asien (1995) oder China’s Megatrends (2010).

Der 1955 in Düsseldorf geborene, in Kiel und Frankfurt aufgewachsene Matthias Horx ist Journalist und bezeichnet sich selbst als ‚einflussreichster Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum‘. Sein 2011 erschienenes Buch Das Megatrend-Prinzip schwimmt auf der von Naisbitt ausgelösten Welle. Es ist keine Frage, dass das Nachdenken über die Zukunft auch für unsere Wirtschaft und Gesellschaft wichtig ist. Daher kamen in diesem Blog immer wieder Teilaspekte wie Altern, Bildung und Globalisierung zur Sprache. Ich las das Buch von Horx vor allem deshalb, um mir über die Breite des Themas Zukunft klar zu werden und um zu sehen, was im Markt der Meinungen heute besonders hoch gehandelt wird. Ich erwartete keine wissenschaftliche Ausarbeitung.

Nach Horx gibt es zurzeit elf Megatrends: Globalisierung, Frauenaufwertung, Individualismus, Altern, Urbanisierung, Mobilität, Neue Formen der Arbeit, Bildung, Gesundheit, Ökologie und Konnektivität. Ein Megatrend ist zwar groß, aber eher breit und langanhaltend als stark und überstürzend. Typischerweise ist sein Effekt etwa ein Prozent pro Jahr. Beispiele sind ein Prozent mehr Frauen in Führungspositionen pro Jahr oder ein Prozent durchschnittliche Steigerung der Lebenserwartung pro Jahr.

Jeder Trend wird von zwei möglichen Quellen gespeist, den Bedürfnissen der Menschen und den Möglichkeiten der Technik. An die Stelle von Bedürfnissen können Wünsche treten. Statt der Technik kann auch die Wirtschaft neue Möglichkeiten schaffen. Da jeder Trend eine Repriorisierung der derzeitigen Verhältnisse veranlasst, wird er auf Widerstand stoßen. Vorhandene Lösungen werden verbessert. Trends müssen daher nicht linear steigend sein. Sie können Pausen einlegen oder sogar eine Weile rückläufig sein. Manche Trends unterstützen sich gegenseitig. 

  Nicht-linearer Trend

Ein Schleifenbild entsteht dann, wenn man die Abzisse nicht als absolute (Kalender-) Zeit auffasst, sondern als relativen Abstand vom Endpunkt der Kurve.

Soweit das Grundsätzliche. Es folgen ausgewählte Aussagen zu den einzelnen Trends, die mir interessant erschienen. Es liegt mir fern, die Fülle des Materials vollständig wiederzugeben. Markante Aussagen zu andern Themen folgen im Anschluss.

Globalisierung: Das ist der am häufigsten zitierte Trend. Es gibt ihn – mit Unterbrechungen – seit Menschen aus Afrika auswanderten. Von 1961 bis 2003 haben sich Getreideerträge in Afrika verdoppelt. Es ist alles eine Frage der Arbeitsteilung, wie schon Adam Smith sagte. Ein Engländer hat es bewiesen, indem er einen Toaster selbst herstellte und das benötigte Eisen und Kupfer eigenhändig gewann. Volatilität ist kein Privileg amerikanischer Firmen. Durch ‚Glokalisierung‘ (Globalisierung verbunden mit Lokalisierung) erfolgt eine Optimierung mit einer verstärkten Bewertung von Transportkosten. Die Welt ist nicht ungerecht; sie ist kreuz und quer verwirrend.

Frauenaufwertung: Dass Geburtenraten überall auf der Welt fallen, wird noch nicht geglaubt. Es ist das Ergebnis von vier Trends (Urbanisierung, Frauen, Individualisierung und Alterung). Das Maximum von neun Mrd. wird in 2070 erreicht sein.

Individualismus: Individualismus braucht Verbundenheit. Kuschelhormon (Oxytocin) fördert Wir-Gefühl, aber auch Hass auf Andersgeartete.

Altern: Zunahme der Lebenserwartung ist in 186 von 194 Ländern festzustellen. Ausnahmen sind ‚failed states‘ (Haiti, Somalia), arme Länder (Mali, Äthiopien), Russland (wegen schlechtem Wodka) und Südafrika (wegen Aids). Altern bedeutet Tod der Ambitionen und Geburt der Akzeptanz. Weisheit ist höher integrierte mentale Konnektivität.

Urbanisierung: In 40 Stadtregionen wohnen zwei Drittel der Weltbevölkerung. Stadtleben macht gleichgültig (und ‚gleich gültig‘); entkoppelt von Raum; Suburbia ist nicht mehr das Ideal. Trend legt Schleife ein. Megastädte schrumpfen. Singapur funktioniert, weil es Disneyland mit Todesstrafe ist. Urbanisierung und Technisierung in dritter Welt lassen dennoch langfristigen Investitionsschub erwarten.

Mobilität: Begann mit Auswanderung aus Afrika (siehe oben). Technik hat sich seither enorm verbessert.

Neue Arbeitsformen: Der Lohnarbeiter ist ein moderner Höriger. Beschäftigung wurde erkauft durch Entselbständigung. Das ist nichts für Kreative. Neuer Trend heißt Verwissenschaftlichung und Re-Verselbständigung. Gesellschaft benötigt neue Kooperationsformen, nicht nur 'wie Du mir, so ich Dir'. Mehr ‚fluide‘ Organisationen. Hartz-Reformen förderten Teilhabe an Gesellschaft statt Abhängen.

Bildung: Im Ausbildungssystem wird Produktivität vernichtet. Es schafft keine kreativen Eliten. Jäger und Sammler besaßen hervorragendes Wissen über die Natur; Straßenkinder kennen ihre Welt; heutige Bildung muss Könnerschaft für Morgen besorgen. Die Internet-Revolution erzeugt die freie Verfügbarkeit des Wissens. Welche Knappheit wird als Folge hervorgerufen? Mangel an Orientierung?

Gesundheit: Die Kindersterblichkeit ist in einigen Ländern der Dritten Welt (z.B. Sri Lanka) geringer als in einigen Schwellenländern (z.B. Türkei). Bei Demenz brechen verschüttete Konflikte auf. Lösung heißt Validieren. Epigenetik (Umwelt beeinflusst Phänotyp) reduzierte die Hoffnungen der Genetiker.

Ökologie: Verstädterung ist ein Gewinnspiel für die Umwelt.

Konnektivität: Lebewesen brauchen Energie und Konnektivität (Austausch von Information). Vertrauen spart Transaktionskosten; Zivilisation zentriert Verantwortung. Wissen entsteht schichtenweise; atomisiertes Wissen ist uninteressant. Nur Wissen, das wir mit andern teilen, ist nützlich.

Soweit die elf Megatrends. Die folgenden weiteren Aussagen fand ich ebenfalls beachtenswert.

Evolution: Megatrends sind Ausdruck des evolutionären Prinzips der Komplexität. Ausdifferenzierung ist sicherste Pfad der Evolution. Evolution hat uns die Fähigkeit gegeben eher einen Säbeltiger zu viel zu sehen als einen zu wenig.

Gesellschaft: Menschliche Gesellschaften sind problemlösende Organisationen mit sinkenden Grenzerträgen.

Innovation: Innovation ist nicht dadurch bestimmt, was möglich gemacht wird, sondern was genutzt wird. Die Entwicklung von Neuem wird umso langsamer, je mehr auf dem Spiel steht (J. Lanier)

Märkte: Märkte soll man nicht unterschätzen. Sie lenken Investitionen auf Wellness, Gesundheit und Bildung. Es gibt viele Teilmärkte; immer sind irgendwo Krisen. Bis 2008 galt Ökonomie als die letzte ‚harte‘ Wissenschaft. Nach Kondratjew ist der Markt keine Mathematik, sondern ein Kultursystem, in dem Technik und menschliche Organisation interagieren. Kondratjew wurde von Schumpeter weiterentwickelt.

Krisen: Krisen sind notwendig und produktiv. Es bilden sich neue Ordnungen heraus. Krisen sind ein Anreiz zu höherer Komplexität. Das gilt auch für die Euro-Krise.

Komplexität: Durch Feedback erlöste Kompliziertheit oder dynamische Adaptivität. Eine Bakterie ist so kompliziert wie ein Passagierflugzeug. Beide funktionieren dank Feedback-Schleifen und Systemhilfe. Komplexe Systeme brauchen viel Energie; Knappheit von Ressourcen führt zur Spezialisierung. Komplexität ist Kollaterialbonus (sic!) der Evolution, nicht ihr Ziel.

Emergenz: Wechselbeziehungen zwischen Einzelteilen führen zu neuen Eigenschaften, die kein Einzelteil besitzt.

Resilienz: Zurückspringen auf Ausgangsform, auch Robustheit; neues Modewort wird den Begriff Nachhaltigkeit ablösen. Eine Gesellschaft muss resilient sein, d.h. fähig Lernprozesse zu organisieren.

Ein mir bisher unbekannter Guru scheint es Horx angetan zu haben. Er hieß Clare Graves (1914-1986) und lebte im Staat New York. Nach dessen Meinung sind die Lösungen von Heute die Probleme von Morgen. Er erklärte die Entwicklung eines Individuums vom Baby bis zum Greis anhand derselben Prinzipien wie die Geschichte der Menschheit. Die vom Individuum erzeugten Bewältigungsstrategien des Ichs verursachen neue Organisationsweisen der Gruppe. In einer Art Spirale werden abwechselnd Individualismus und Konnektivität betont und weiterentwickelt. Es gibt noch kein deutsches Buch darüber. Vielleicht wird es nie eins geben. Abschließend empfiehlt er, sich mit so bekannten ‚Großhistorikern‘ wie Jared Diamond, Niall Ferguson und Ian Morris zu befassen, aber auch mit wissenschaftlichen Querdenkern wie Antonio Damasio, David Deutsch und Martin Nowak. Zumindest Morris und Damasio sind den Lesern dieses Blogs bereits begegnet.

Nachtrag am 20.1.2013: Martin Nowak kommt im übernächsten Eintrag vor.

Samstag, 5. Januar 2013

Organisations-Anthropologie – was ist das?

Am 5.1.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

Ist [der mitgesandte Beitrag] eigentlich etwas für Ihren Blog?  Formelzeichen werden nicht benutzt! Ich glaube aber, er passt nicht, weil eine Einführung mit dem Thema „Was ist Anthropologie“?  fehlt. Gehlen und  Plessner  waren die deutschen Heroen der Anthropologie (biologisch, sozial, geistig).

Mir gefällt unter den sonstigen  Heroen natürlich der Erlanger Wilhelm Kamlah am besten. Bevor er seine „Philosophische  Anthropologie“ schrieb, verfasst er einen Aufsatz mit dem Thema „Der Mensch in der Profanität“. Und das genau ist mit Anthropologie gemeint. Es gilt: „Wer profan ist, ist nicht heilig“. Alles, was nach Heiligkeit riecht,  ist  anthropologisch draußen.

Zuviel Philosophie kann nicht sein, dachte ich mir, und las es. Die  offen gelassene Frage ‚Was ist Anthropologie?‘ ließe sich mit einem Hinweis auf Wikipedia erklären. Auch die Hinweise auf Gehlen, Plessner und Kamlah ließen sich auf diese Art ersetzen.

An einer Stelle mitten im Text begann ich hellhörig zu werden, nämlich als Wedekind sich die Frage stellt: Was ist ein Fehler? Seine Antwort: ‚Technisch gesprochen ist ein Fehler eine nicht tolerierbare Abweichung von einer Spezifikation (Soll).‘ Da fühlte ich mich auf einmal herausgefordert. Da mich dieselbe Frage schon seit Jahrzehnten beschäftigt hat, gab es auch in diesem Blog bereits einige Hinweise. Bei dem Wort ‚Spezifikation‘ ist Wedekind – im Gegensatz zu vielen andern Kollegen – vorsichtig und fügt in Klammern das Wort ‚Soll‘ hinzu.

Die Soll-Spezifikation heißt genauer Anforderungsdefinition. Sie ist sehr oft die Basis eines Vertrags zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Das Schwierige sind meist die nicht-funktionalen Anforderungen (Leistung, Benutzbarkeit, Sicherheit). Leider lassen sie sich nicht formal ausdrücken, wie dies bei den funktionalen Anforderungen sehr oft der Fall ist. Je vollständiger eine Spezifikation ist, umso genauer lässt sie sich implementieren. Je mehr Freiheitsgrade offen gelassen werden, umso mehr Bedarf besteht für eine Ist-Spezifikation. Der Entwerfer trifft dann die Auswahl.

Nun zu den Fehlern: Aus technischer Sicht ist es sinnvoll, sie nach der Entwicklertätigkeit zu unterscheiden, etwa in Anforderungsfehler, Entwurfsfehler, Implementierungsfehler, Testfehler, Installationsfehler und Nutzerfehler. Um das Vorwort nicht zu einem eigenen Beitrag ausarten zu lassen, nehme ich an, dass Wedekind im obigen Zitat nur an Anforderungsfehler dachte. Es sind Situationen (engl. use cases), die besonderer Behandlung bedürfen. Typische Beispiele sind 'Speicher voll' und 'Batterie leer'. Was wir leichthin als Fehler bezeichnen, ist manchmal nur ein Aspekt der Realität, der beachtet werden muss.

Jetzt zu meinen eigentlichen Einwänden. Es ist eine der üblichen Lebenslügen, an die besonders akademische Informatiker zu glauben scheinen, dass sich komplexe Systeme, wie wir sie heute täglich benutzen (Amazon, Google, Facebook, Autobahn-Maut, Arbeitslosenhilfe), vollständig und exakt spezifizieren lassen. Eine weitere Gefahr besteht darin, Informatikern und Ingenieuren einzutrichtern, dass ihre Verantwortung nur beim Vorliegen einer Soll-Spezifikation einsetzt. Steve Jobs hat deutlicher als andere Kollegen erkannt, dass der Ingenieur die nicht-artikulierten Wünsche der potentiellen Nutzer erkennen muss. Schließlich ist es unprofessionell, alle Wünsche eines Auftraggebers unbesehen zu akzeptieren. Wohin es führt, wenn wir hier versagen, darauf hat das Ehepaar Mitscherlich in seinem bekannten Buch hingewiesen. Selbst KZ-Ärzte sahen sich im Dienste der Wissenschaft handeln, als sie Menschen quälten und töteten.

Ich hoffe, es gelingt Ihnen, trotz dieser Vorbemerkungen und der nur schwer verdaulichen Begrifflichkeit des beigefügten Wedekind-Beitrags seine fachliche Substanz zu genießen.

Mittwoch, 2. Januar 2013

Die zwei Jahre dieses Blogs – statistisch gesehen

Dieser Blog gibt mir immer noch Anlass zum Staunen und Lernen. Da es so einfach ist, schöne Statistiken zu erstellen, schaue ich sie mir immer wieder an. Wie in der Vergangenheit so gebe ich im Folgenden einen Auszug für das letzte Halbjahr, hoffend dass er die Leser interessiert. Die Daten basieren auf dem Stand von 31.12.2012. Es ist auch eine Gelegenheit, um etwas über das Phänomen Internet nachzudenken.

Besucherzahlen und Herkunft

Recht erstaunlich ist der weitere Anstieg der Besucherzahl (Seitenaufrufe) des Blogs. Diese Zahl hat sich von 8.693 im dritten Halbjahr auf 15.328 im vierten Halbjahr nahezu verdoppelt. Das entspricht einem Zuwachs von 76 %. Insgesamt stieg die Zahl der bisherigen Besucher von 19.378 auf 34.708. In den letzten Monaten hatten wir täglich rund 100 Besucher oder über 3.000 pro Monat.

   Besucher und deren Herkunft

Die Verteilung der Leser auf Länder hat sich im letzten Jahr kaum verändert. Die er­sten acht Länder blieben dieselben. Spanien und Irland haben Singapur und Luxemburg verdrängt. Frankreich, Russland und die Ukraine haben weiter kräftig zugelegt. Es sind laufend noch neue Länder dazu gekommen. Die ganze Nordhalbkugel erscheint in der Grafik in verschiedenen Schattierungen von Grün. Als neu fielen mir auf Kasachstan, Tadschikistan und Weißrussland (Belarus). Die Gesamtzahl der Leser aus den nicht genannten Ländern liegt bei 2727 und ist in der Tabelle als ‚Übrige Länder‘ aufgeführt. Diese Steigerung ist beachtlich.

Themen und ihre Beliebtheit

Bei den Themen gibt es weiterhin zwei eindeutige Spitzenreiter. Deren Zugriffszahlen erhöhen sich auch jetzt noch laufend. An der Spitze liegt inzwischen mein Beitrag vom Mai 2011 über Professionalität, bei dem ich von Manfred Broy unterstützt wurde. Bald wird er die Marke von Tausend Lesern überschritten haben. Es folgen die Zigarettenbilder, deren Reiz nicht nachzulassen scheint. Auf den Plätzen hinter den zwei Spitzenreitern gibt es laufend Änderungen. Mein Versuch, fachliche Leitbilder aus der Praxis zu finden, wurde honoriert. Allein das gibt mir schon das Gefühl, mit diesem Blog etwas Nützliches begonnen zu haben. Zwei dieser Leitbilder (Karl Ganzhorn und Heinz Gumin) hatte ich bereits vorher in Erinnerung gerufen, was bei den Lesern auf großes Interesse stieß.


Spitzenreiter nach Themen

Zwei Beiträge meiner Freunde Hans Diel und Peter Hiemann (Quantenphysik, Popper) wurden sehr beachtet. Unser gemeinsames Ringen mit dem Informationsbegriff rief zwar bei einem Leser das Gefühl des ‚Déjà vu‘ hervor. Beruhigend daran ist, dass wir nicht ganz falsch lagen. Zwei meiner historischen Beiträge (Gerbert d’Aurillac, Dynastie der Luxemburger) machten nicht nur mir Freude. Sowohl je eine Besprechung eines aktuellen Buches (Digitale Demenz) wie eine meiner fachlichen Reflektionen (Geometrie) schafften es, in die Spitzengruppe zu gelangen. Schließlich zogen meine Predigten für meine Enkelin (Abi 2012) und meine Altersgedanken zum Jahresende zahlreiche Leser an. Dabei ist letzterer Beitrag erst gerade fünf Tage im Netz. Nochmals vielen Dank allen Beitragenden und allen Lesern. 


Zugriffshäufigkeit aller Beiträge

Wie letztes Mal habe ich auch dieses Mal die Zugriffshäufigkeit aller 228 Beiträge dargestellt. Das Ergebnis hat sich im Prinzip nicht verändert. Sortiert man die Beiträge nach der Häufigkeit der Zugriffe, so ergibt sich hier der bekannte lange Schwanz (engl. long tail), ein Phänomen, das auch andere Internet-Aktivitäten feststellen. Die Darstellung nach relativem Alter zeigt, ‒ wie immer ‒ dass die Attraktivität nichts mit dem Erscheinungsdatum zu tun hat. Die Zacken stellen die Beiträge dar, die in der zweiten Tabelle (Spitzenreiter) gelistet sind. Die durchschnittliche Zugriffhäufigkeit liegt inzwischen bei 93,5 Seitenaufrufen. Der niedrigste Wert ist 12.

Angegeben werden vom Blogger-System auch die Betriebssysteme und Browser, die von Lesern benutzt werden, sowie die Begriffe, mit denen anschließend in Google gesucht wurde. Hier gab es keine neuen Erkenntnisse, die mich beeindruckten.

Phänomen Internet

Bloggen ist ein Teil des Phänomens Internet. Seit mehreren Jahren verfolge ich die weltweite Entwicklung des Internets. Im Halbjahreszyklus erhalte ich umfangreiche Statistiken. Sie werden mir von Enrique de Agaez von der Firma Miniwatts zur Verfügung gestellt. Dieses Mal habe ich ihn gebeten mir zu erlauben, eine seiner Tabellen in vereinfachter Form wiederzugeben, was er mir freundlicherweise gestattete.


Dargestellt ist das Wachstum in den letzten 11,5 Jahren. Man beachte die Prozentzahlen. Es sind die kumulativen Zahlen, nicht das jährliche Wachstum. Folgende Dinge fallen auf. Europa und Asien haben Nordamerika (USA und Kanada) längst überholt, was die absolute Zahl der Nutzer anbetrifft. Lateinamerika ist dabei gleichzuziehen. Nur in der Durchdringung führt Nordamerika noch vor Australien und Europa. Die Zuwachsraten sind am größten da, wo Nachholbedarf besteht, nämlich in Afrika und im Mittleren Osten. Mit einer Milliarde Nutzer hat Facebook sein Potential noch nicht einmal zu Hälfte ausgeschöpft. Ein Drittel aller Menschen sind auf eine neue Art miteinander verbunden. Sie sind Empfänger und Sender zugleich, nicht nur von Haus zu Haus und per Kabel, sondern mobil und per Funk. Obwohl Englisch als Sprache der Techniker und Wissenschaftler eine starke Verbindung darstellt, zerfällt für den normalen Nutzer das Netz in mehrere große Sprachinseln. Mein deutschsprachiger Blog wird trotzdem fast auf der ganzen Nordhalbkugel der Erde angeklickt. Ob ein Besucher einer Seite diese auch gelesen hat oder lesen konnte, darüber lässt sich nichts sagen. Das ist bei einem gekauften Buch oder einer abonnierten Zeitschrift nicht anders.

Die Welt der Blogger, auch Blogosphäre genannt, ist eine Tausend-Blumen-Welt. Mit ihrem Blabla muss sie ankämpfen gegen Tausende Online-Nachrichtendienste, Millionen von iTunes-Melodien und Youtube-Filmen und alle ins Netz übergesiedelten ehemaligen Funk- und Druckmedien. Ob und wie man sich arrangiert, wird sich erst in der Zukunft entscheiden. Die potentiellen Vorteile liegen in der Möglichkeit des Dialogs. Um sie auszunutzen, bedarf es noch einiger Gewöhnung. Bertals Blog lässt nur allererste Ansätze erkennen.

Zum Schluss noch einen wahren Sinnspruch. Er stammt von Margarete Mitscherlich und steht in dem letzte Woche besprochenen Buch. Er heißt: Das Leben hat nur den Sinn, den man ihm gibt.