Mittwoch, 14. August 2013

Was ist das Internet eigentlich und was wird es einmal sein?

Dieser Tage melden sich viele Experten zu Wort, die zu der Frage im Titel etwas sagen wollen und können. Es ist dies einer der positiven Nebeneffekte des Falls Snowden, worauf ich bereits gleich zu Anfang der gleichnamigen Affäre verwiesen habe. In den deutschen Medien sind dies vor allem der Chaos Computer Club (CCC) mit seinen Sprechern (Constanze Kurz, Frank Rieger), und die Einzelkämpfer Sascha Lobo und Markus Beckedahl und einige Vertreter der Piratenpartei. Nicht darunter sind die Gesellschaft für Informatik (GI) oder der BitKom. Für die einen ist die obige Frage vermutlich nicht wissenschaftlich interessant, für die anderen hat sie keine erkennbare ökonomische Relevanz. Man überlässt sie daher dem Boulevard oder den Generalisten. Ich beginne meine Betrachtung mit einem kurzen Rückblick.

Was war das Internet ursprünglich?

Das Internet war am Anfang ein kostenloser Postdienst für Hochschulen zum Transport von Telegrammen, Briefen, computer-lesbaren Material und technischen Berichten. Seine Nutzer waren Wissenschaftler und Studenten der Informatik (engl. computer science) und verwandter Ingenieurfächer an amerikanischen Elite-Universitäten. Ursprünglich umfasste dies die University of California at Los Angeles (UCLA) und die Stanford University, später kamen die University of Utah und die University of California in Santa Barbara dazu. Der erste Knoten in Europa war im National Physical Laboratory (NPL) in England. Die erste deutsche Adresse hatte das Rechenzentrum der Universität Karlsruhe. Der Dienst benutzte vorhandene Rechner, die für Forschungszwecke zur Verfügung standen. Ausgetauscht wurden Verabredungen, Beschreibungen von Forschungszielen, Computer-Programme in unterschiedlichen Sprachen und Entwicklungszuständen und Forschungsberichte in Textform.

Was ist das Internet heute?

Das Internet ist heute für alle Gerätetypen zugänglich, die über eine minimale Computerkapazität verfügen. Anstatt einiger wenigen Spezialisten bedient das Netz Milliarden von Nutzern weltweit, in allen Alters- und Berufsgruppen. Der primäre Nutzer ist heute ein Mensch (siehe unten). Das Internet ist eine Basis (engl. enabler) für eine Vielzahl unterschiedlicher Dienste und Produkte. Die Dienste existierten größtenteils bereits vorher, wurden aber mit andern Mitteln realisiert. Hierzu gehören:

  • Post- und Fernschreibdienst (Telegrafie): Sowohl für geschäftlichen und privaten Gebrauch weltweit kostenlos.
  • Fernsprechdienst (Telefon): Alle Zweiergespräche und Konferenzen nutzen zunehmend das Internet zur Übertragung. Teilweise kostenlos.
  • Archiv und Bibliothek: Ablage mit weltweitem Zugriff für Daten und Dokumente für geschäftliche, wissenschaftliche und private Nutzung.
  • Auskunftei und Nachschlage-Lexikon: Das Internet ist ein enormes Sammelbecken für Information und Wissen. Dank dem hohen Stand der Suchmaschinentechnik ist es für jedermann leicht zu erschließen.
  • Nachrichtenvermittlung: Privatleute, kommerzielle und staatliche Organisationen stellen laufend aktuelle Information bereit, die man gezielt beobachten kann. Die Agenturen gehen entweder direkt ins Netz oder verkaufen weiter an Medien (Zeitungen und Rundfunk) zwecks Weiterverwendung.
  • Ausdrucksmedium für Kreative: Die Schöpfer von Belletristik, Sachbüchern, Kinderbüchern, Poesie, Spielen, Grafik, Gemälden und Musik gehen zunehmend ins Internet.
  • Medium für Essayisten: Parallel zu den bestehenden Medien gehen viele Einzelpersonen direkt an die Öffentlichkeit (als Blogger).
  • Bücher-, Gemälde-, Musik- und Videoladen: Zunächst wurden gedruckte Bücher und andere Datenträger online verkauft. Inzwischen erscheinen fast alle Bücher auch oder nur als E-Books, sowie alle andern Medien direkt im Netz.
  • Versandhandel: Neben Büchern werden auch alle physikalischen Produkte (Kleider, Lebensmittel, technische Geräte) online verkauft und per Postkurier ausgeliefert.
  • Reisebüro: Planung, Beratung und Buchung von Reisen (Flug, Bahn, Mietwagen, Hotel) erfolgt nur noch direkt (d.h. elektronisch) durch den Kunden.
  • Sammlung von Kartenmaterial (Atlas): Für die Nutzung ohne und mit GPS-Navigationsgeräten.
  • Fernsehen, Kino, Konzerthaus: Alle Aufführungen und Produkte können von zuhause aus und zeitversetzt genutzt werden.
  • Buchhaltung, Lagerbuch: Repositorium für Geschäftsunterlagen aller Art.
  • Allgemeine und spezielle Märkte: Anbieter und Käufer für Gebrauchtwaren und Alltagsbedarf, aber auch für Kunst und Wertgegenstände werden weltweit zusammen geführt. Orts- und Zeitgleichheit sind nicht mehr erforderlich.
  • Finanzplatz: Finanzgeschäfte aller Art (Wertpapiere, Versicherungen) lassen sich ortsunabhängig und schnell erledigen. Große Differenzierung.
  • Aus- und Weiterbildung: Nach vielen Versuchen E-Learning innerhalb einzelner Schulen und Ausbildungsgänge einzusetzen, scheinen MOOCs einen Massenmarkt zu adressieren.
  • Jugendtreff und Heiratsmarkt: Durch Selbstdarstellungen werden Kontakte geknüpft und gepflegt.
  • Medizinische und psychologische Beratung: Viele Patienten suchen zuerst im Netz nach Heilmethoden oder Medikamenten, ehe sie einen Arzt oder Psychologen aufsuchen.
  • Treffpunkt für Gruppierungen aller Art: Weltweit können Hobbyisten und Esoteriker, fachliche, politische, religiöse und soziale Interessensgemeinschaften sich darstellen und leicht kommunizieren.
  • Spielplatz: Wettbüros und Spielkasinos sind nicht mehr ortsgebunden. Alle Karten- und Brettspiele sowohl für Einzelpersonen wie für Gruppen sind überall und jederzeit verfügbar.
  • usw., usw.

Es gibt auch eine Gruppe neuer, meist amerikanische Geschäftsideen und Anwendungen, die speziell für das Medium Internet entwickelt wurden. Sie richten sich oft an große Massen von simultanen Nutzern, vor allem Jugendliche. So wie früher beim Fernschach gegen unbekannte Partner können sich jetzt viele Personen zeitgleich im Wettbewerb oder gemeinsam an geistig anspruchsvollen Aufgaben betätigen. Diese Anwendungen sind ökonomisch gesehen noch lange nicht so wichtig wie die oben gelisteten. Deshalb will ich hier nicht näher auf sie eingehen. Vielleicht tue ich es später einmal.

Ist das Internet noch zu retten?

Zu dieser Frage äußerten sich am 8.8.2013 in einem Beitrag für Zeit-Online zehn so genannte Pioniere und Theoretiker des Internet. Darunter sind Jaron Lanier, Jeff Jarvis, Jevgeny Morozov, Viktor Mayer-Schönberger, Anke Domscheit-Berg und Markus Beckedahl. Sieht man diese Namen, ist das Attribut ‚Pioniere und Theoretiker‘ vielleicht übertrieben. Es sind zumindest bekannte Autoren. Bezüglich der Zukunft des Internet gehen die Meinungen sehr auseinander. Das liegt einerseits daran, dass das Internet bisher alles andere als eine kontinuierliche Entwicklung durchlief. Nicht-lineare oder chaotische Entwicklungen zu extrapolieren, ist immer riskant. Andererseits gibt sich kaum jemand der Befragten die Mühe, von der eigenen Wunschvorstellung zu abstrahieren. Da das, was dabei herauskam, nicht uninteressant ist, seien einige Beispiele kurz zitiert.

Lanier ist Informatiker und Musiker. Ihn stört es, dass im Internet der Wert geistigen Eigentums ignoriert und damit jedwede künstlerische Leistung entwertet wird.

Bürger, die sich daran gewöhnt haben, ihre Privatsphäre gegen die irreführende Illusion der Kostenlosigkeit einzutauschen, sollten sich nicht wundern. Die Lösung des Problems: Monetarisiert die Informationen von Otto Normalverbraucher.

Jarvis ist Journalist und Autor mehrerer Bücher über die durch das Internet bewirkten strukturellen Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft.

Im Dienst dieser Bedürfnisse und Chancen entstehen große neue Institutionen: Google, um uns mit den Informationen, Facebook, um uns untereinander, Twitter, um uns mit jedermann zu verbinden. Sie und wir handeln in einem voranschreitenden Prozess die Normen und die Ethik der Privatsphäre, Transparenz und Kontrolle aus. Nun aber tritt der Staat in Erscheinung. Er mag sich als Beschützer der Privatsphäre gerieren, in Wirklichkeit aber ist er ihre größte Bedrohung, denn er kann Informationen sammeln und gegen uns verwenden wie niemand sonst.

Morozov war als Blogger in Weißrussland tätig und lebt heute in den USA.

Warum dominieren im Internet Konsum und Überwachung? Weil das, was wir "das Internet" nennen, nur eine kleine  ̶  wenngleich wachsende  ̶  Teilmenge aller anderen modernen Interaktionen ist, die sich durch eine Eigenschaft auszeichnen. Sie alle werden nämlich durch dasselbe technische Protokoll ermöglicht: TCP/IP.

Mayer-Schönberger ist Professor am Internet Institute der Oxford University. Er veröffentlichte in diesem Jahr ein Buch mit dem Titel "Big Data".

Das Internet ist die alle Bereiche unserer Lebenswelt durchdringende Infrastruktur dieser Informationsflüsse. Der Kampf um die Vorherrschaft über die Steuerung der Informationsflüsse und um die sich daraus ergebende Deutungshoheit ist in vollem Gange.

Domscheit-Berg ist Spitzenkandidatin der brandenburgischen Piratenpartei für die Bundestagswahl.

Wir können uns mehrheitlich weiter blind und taub stellen und uns dann in einer Welt wiederfinden, in der wir versuchen, unseren Kindern zu erklären, was ein freies Internet einmal bedeutete und wie mit seinem Ende auch viele andere Freiheiten für immer verschwanden. Wir können uns aber auch machtvoll erheben und das Internet  ̶  so wie wir es kannten  ̶  mit Zähnen und Klauen zurückerobern. Wir können Alternativen entwickeln und nutzen, die vielfältig sind und nicht von Monopolisten betrieben werden.

Zu Beckedahl heißt es, er sei einer der bekanntesten deutschen Blogger. Er betreibt das Blog netzpolitik.org und hat den Verein Digitale Gesellschaft gegründet.

Technisch können wir aus den Enthüllungen lernen, dass der Schutz unserer Privatsphäre bei der Entwicklung von neuen Technologien sofort von Anfang an mitgedacht werden muss. Dezentrale Infrastrukturen bieten weniger Möglichkeiten zum Abgreifen der Daten als eine Zentralisierung bei einem großen Anbieter. … Es geht um nichts Geringeres als unsere digitale Zukunft mit den Grundwerten und Grundrechten, die wir kennen und lieben gelernt haben. Und die für eine freie und demokratische Gesellschaft essenziell sind.

Was wird das Internet in Zukunft sein?

Welche der bereits stattgefundenen Änderungen des Internets die gravierendsten sind, wird unterschiedlich beurteilt. Für manche ist es die Vielzahl der Anwendungen und Inhalte, für andere ist es die Rolle, die Großunternehmen wie Amazon, Apple, Google, Facebook und Wikipedia inzwischen übernommen haben. Durch sie sehen manche die so genannte Neutralität des Netzes gefährdet. In den letzten Wochen erscheint vielen Menschen, dass die größte Änderung sich aus der Rolle des Staates ergibt. Anbieter und Nutzer haben nicht länger das Gefühl, sich selbst überlassen zu sein. Um die Gefahren durch internationalen Terror oder organisierte Kriminalität in den Griff zu bekommen, scheinen westliche Staaten ihre Zurückhaltung aufgegeben oder verloren zu haben. Möglicherweise gelingt es, den Staat wieder etwas aus dem Internet heraus zu drängen. Das geschieht aber eher durch kommerzielle Initiativen und Erfolge als durch Graswurzel-Aktivitäten.

Es gibt eine Vielzahl von Forschungsprojekten auf der ganzen Welt, die dem Thema Future Internet gewidmet sind. Das amerikanische GENI-Projekt zählt hierbei zu den bekanntesten. In Deutschland wurde Ende 2008 das German Lab als nationale Experimentierplattform gegründet. Einige Kollegen fordern, das (alte) Internet total abzulösen durch eine völlige Neukonzeption (engl. clean slate). Angesichts der bisherigen Investitionen in Daten und Dienste (siehe oben) sind dafür enge Grenzen gesetzt. Alle Änderungen müssen abwärts kompatibel sein. Natürlich wird sich nicht nur das Volumen an Daten weiter erhöhen. Es werden weitere Anwendungen und Datentypen hinzukommen. Es kann sein, dass einzelne Bereiche sich noch weiter voneinander abschotten. Gründe dafür sind Benutzerfreundlichkeit und Sicherheit. Wieweit sich Verschlüsselung in dieser Hinsicht gegenüber Techniken wie Virtuelle Private Netze (VPN) durchsetzt, ist offen. Ein aktuell zu lösendes Problem ist die Umstellung des Internet-Protokolls von Version 4 auf Version 6. Hierbei geht es unter anderem um eine Vergrößerung des Adressraums von 4,3 ·109 Adressen auf 3,4·1038  Adressen. Wie vor zwei Jahren im Interview mit Christoph Meinel diskutiert, müssen allein dafür 10-20 Jahre angesetzt werden.

Es ist heute bereits absehbar, dass viele technische Geräte miteinander ohne menschliche Intervention kommunizieren werden (Internet der Dinge). Das gilt nicht nur für die industrielle oder ökologische Planung und Steuerung, sondern auch für Sportgeräte oder medizinisches Monitoring. Die technischen Grundlagen dafür (z.B. RFID, Mikrosensornetze) sind schon lange vorhanden. Es fehlt nur an guten Anwendungsideen (auch Killer Apps genannt) und effizienten Implementierungen.

Oft existieren die alte, offline und die neue, online Realisierung eines der oben genannten Dienste noch nebeneinander. Dieser Zustand kann noch Jahrzehnte lang oder sogar unbeschränkt anhalten. Dass die alte Version teurer, langsamer und weniger zuverlässig ist, ist nicht immer ausreichend, um alle Nutzer zum Umsteigen zu bewegen. Ein analoges Beispiel sind Autos und Pferdefuhrwerke. In vielen von Touristen besonders geschätzten Orten werden Autos zurzeit von Pferdekutschen und Reitern verdrängt. Über eines können wir sicher sein. Es wird auch in Zukunft viele neue Produkte und Dienste geben, an die wir heute noch gar nicht denken.

Zusammenfassung

Das Internet ist die nützlichste Errungenschaft der praktischen Informatik für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft. Während die Einführung von Computern nur bestimmte Berufe betraf, ist die Wirkung des Internet mit der Elektrifizierung vergleichbar. Die Vorteile für alle Geschäftsbereiche und alle gesellschaftlichen Gruppen liegen auf der Hand. Daher werden viele Berufe sich ändern, manche wegfallen und neue entstehen. Zu hoffen, dass die durch das Internet verursachte Entwicklung aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen ist, ist eine Illusion. Da immer noch viele (ältere) Leute dieser Illusion anhängen, muss man sie aufklären. Bei Jugendlichen besteht kein Umschulungsbedarf. Sie wachsen mit dem Internet zusammen auf. Im Englischen spricht man von ‚digital natives‘. Die deutsche Übersetzung ‚digitale Eingeborne‘ geht uns nur schwer von den Lippen. Da es keinen Fortschritt ohne Kosten gibt, keine Gewinner ohne Verlierer, darf man die Kehrseiten des Internet nicht aus dem Auge verlieren. Aus ihnen entstehen Gefahren und Ängste. Sie müssen ernst genommen werden.

Besonders resistent gegen zwingend notwendige Belehrungen sind neben anderen Zeitgenossen gewisse Alt-Hippies, die glauben, dass man das Internet auf seine akademischen Anfangsjahre zurückdrehen kann. Sie verwechseln gerne Utopie und Realität. Sie zu bekehren lohnt sich nicht.

2 Kommentare:

  1. Am 14.8.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    Dem Internet dürfte eine historische Bedeutung für kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen zukommen, die vergleichbar mit Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert ist, die weitreichende historische Veränderungen eingeleitet hat. Die Verwendung von beweglichen Lettern ab 1450 revolutionierte die herkömmlichen Methoden der Buchproduktion und löste in Europa eine Medienrevolution aus. Gutenbergs Buchdruck breitete sich schnell in Europa und später in der ganzen Welt aus und wird als ein Schlüsselelement der Renaissance betrachtet. Typisch für die Renaissance im Mittelalter war die Rückbesinnung auf die Fähigkeiten des Menschen als Einzelperson und schöpferisches Individuum.

    Im übertragenen Sinn: Das Internet dürfte sich als ein Schlüsselelement einer Renaissance im 21. Jahrhundert herausstellen. Im Mittelalter wurden dominierende scholastische Vorstellungen und entsprechende Institutionen in Frage gestellt. Im 21. Jahrhundert werden dominierende Vorstellungen ökonomischer und politischer Institutionen in Frage gestellt.

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  2. Am 15.8.2013 schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    Der Erfolg hatte schon immer viele Väter.

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