Freitag, 27. September 2013

Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI)

Da ich vor über neun Monaten bei der Vorstellung des Hasso-Plattner-Instituts leichtsinnigerweise eine neue Themenreihe ankündigte, muss ich das Versprechen allmählich einlösen. Dabei springe ich von Osten nach Westen, von Potsdam nach Kaiserslautern und Saarbrücken. Mit dem Slogan Intelligente Lösungen für die Wissensgesellschaft stellt sich Deutschlands größte, aus öffentlichen Mitteln finanzierte Forschungseinrichtung der Informatik vor. Im weiteren Text der Selbstdarstellung auf der Homepage des DFKI heißt es:

Das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) mit den Standorten Kaiserslautern, Saarbrücken, Bremen (mit Außenstelle Osnabrück) und einem Projektbüro in Berlin ist auf dem Gebiet innovativer Softwaretechnologien die führende Forschungseinrichtung in Deutschland. In der internationalen Wissenschaftswelt zählt das DFKI zu den wichtigsten "Centers of Excellence" und ist derzeit, gemessen an Mitarbeiterzahl und Drittmittelvolumen, das weltweit größte Forschungszentrum auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und deren Anwendungen.

Das DFKI wurde 1988 gemeinsam an den Universitäten Kaiserslautern und Saarbrücken gegründet. Nach Kaiserlautern, vertreten durch die Professoren J. Siekmann, M.M. Richter und Th. Härder, wurde auch sein erster Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter in der Person von Prof. Gerhard Barth berufen. Der heutige Vorsitzende der Geschäftsführung ist Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster aus Saarbrücken. Das DFKI hat heute über 400 feste Mitarbeiter. Die aktuell laufenden Projekte werden in 14 Forschungsbereichen durchgeführt. Diese sind im Folgenden zusammen mit ihren derzeitigen Leitern aufgelistet:

Die Gründung des DFKI fiel in eine Zeit, als überall auf der Welt Millionenbeträge für Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) investiert wurden. Außer dem DFKI entstanden noch mehrere andere Zentren in Deutschland, die heute nicht mehr existieren, so das FAW in Ulm und FORWISS in München. Da die sehr hohen Erwartungen sich nicht erfüllten, brach alsbald überall eine Ernüchterungsphase aus. Nicht nur die Industrie, auch die Hochschulen waren davon betroffen. KI wurde zum Unwort der ganzen Branche.

Es ist ein Verdienst des Kollegen Wahlster und seiner Truppe, diese Phase durchgestanden zu haben. Immerhin dauerte sie 20 Jahre. Damals baute man LISP-Maschinen und erste mächtige Expertensysteme und staunte wegen der japanischen Fifth Generation. Danach brach die Eiszeit los, der so genannte KI-Winter. Wer weiterarbeitete, verwendete das Wort KI tunlichst nicht mehr. Am stärksten florierte weiterhin die Robotik. Aber auch die Spracherkennung und das maschinelle Übersetzen machten große Fortschritte.

An drei Beispielthemen, die die Geschichte des DFKIs begleiteten, möchte ich die Art der Themen, den Stand der Technik und die Wirkung einiger Projekte kurz skizzieren. Ich wähle die maschinelle Sprachübersetzung, das semantische Suchen und Benutzungsoberflächen aus, weil sie mir am besten bekannt sind.

Maschinelle Sprachübersetzung

Die maschinelle Sprachverarbeitung hat in Deutschland eine längere Tradition. Erinnert sei an das vor 30 Jahren von der IBM Deutschland betriebene Projekt LILOG. Es ist Wolfgang Wahlsters ureigene Domäne. Seit seinem Studium ist er auf diesem Gebiet aktiv. Nach mehreren kleineren Projekten griff er 1992 mit dem Projekt Verbmobil den berühmten Stier bei den Hörnern. Es war eines der größten deutschen Forschungsprojekte überhaupt. Es sollte ein System entstehen, das gesprochene Sprache, und zwar Deutsch, Englisch und Japanisch, erkennt und simultan in eine gewünscht Ausgabesprache übersetzt und dann einen ganzen Satz ausspricht. Wolfgang Wahlster erhielt 2001 den mit 200.000 € dotierten Zukunftspreis des Bundespräsidenten. Er war der erste Informatiker, der diese Anerkennung erhielt. Wir alle fühlten uns mitgeehrt.

Das Projekt lief etwa acht Jahre und endete mit einem Symposium im Jahre 2000 in Saarbrücken, bei dem ein Prototyp vorgeführt wurde. Ein Exponat befindet sich in der ‚Hall of Fame‘ des Deutschen Museums in München als Dauerausstellung. Das System selbst wurde nicht zum Produkt weiterentwickelt, jedoch sollen daraus viele andere Innovationen hervorgegangen sein. Dazu sollen ein weitgehend sprachgesteuertes Auto, das Vorlesen von E-Mails durch den Computer und eine automatische Musik-Suche nach Sprachbegriffen im Internet zählen. Für die beiden letzten gibt es heute Anwendungen im Internet. Auch die Sprachübersetzung ist als kostenloser Dienst im Angebot von Google. Ob und wieweit diese Produkte von der in Verbmobil geleisteten Vorarbeit profitiert haben, ist (zumindest mir) nicht bekannt. Als die greifbaren Ergebnisse des Projektes werden in einem Rückblick angegeben: 800 Publikationen, 238 Diplomarbeiten und 164 Dissertationen (nachzulesen in Reuse/Vollmar, S.98). Erfindungen oder gar Patente werden nicht erwähnt.

Interessant ist, dass aufgrund des Fortschritts der Technik heute völlig neue Ansätze in Erwägung gezogen werden. Wie weit diese schon bei Verbmobil eine Rolle spielten, ist mir nicht bekannt. So sind z.B. bei Google die statistik-basierten Übersetzungsmethoden sehr im Vormarsch, weil sie keinerlei Kenntnis der beteiligten Sprachen voraussetzen. Es werden reale Textbestände analysiert (z.B. kanadische Parlamentsprotokolle) und neue Texte unter Verwendung alter Beispiele übersetzt. Das ist rohe Gewalt (engl. brute force) statt Wissenschaft. 

Semantisches Suchen

Die Idee des Semantischen Web stammt von niemand anderem als Tim Berners-Lee. Heutige Suchmaschinen arbeiten primär syntaktisch. Sie sind (ohne weitere Hilfe) nicht in der Lage bei dem Wort ‚Golf‘ zu unterscheiden, ob es sich um ein Auto, einen Sport oder einen Meerbusen handelt. Die theoretisch saubere Lösung erfordert, dass jedem Auftreten der vier Buchstaben ‚Golf‘ eine entsprechende Erklärung der Bedeutung hinzugefügt wird. Praktisch bieten sich aber kolossale Schwierigkeiten, weil immer neue Texte dem Internet zugänglich gemacht werden, die nicht semantisch aufbereitet sind. Das geschieht schneller, als eine Aufbereitung möglich ist. Man ist nämlich nicht bereit, auf Aktualität oder Vollständigkeit zugunsten von Genauigkeit oder Verwertbarkeit zu verzichten. Außerdem kann man die Trefferzahl beim Suchen reduzieren, indem man statt nur mit dem Wort ‚Golf‘ mit einer Konjunktion aus zwei Worten sucht, z.B. ‚Golf‘ und ‚Spiel‘.

Ich will damit nicht sagen, dass es nicht auch Anwendungen gibt, bei denen eine bessere semantische Kennzeichnung von Nutzen sein kann. Das normale ‚Googeln‘ ist es nicht. Vielleicht liegt hier noch Potential, wenn es darum geht, geschäftsrelevante Informationen aus der Kommunikation in sozialen Netzen zu gewinnen. Leider stößt man dabei schnell an Grenzen, will man die Privatsphäre nicht verletzen. In meinem Beitrag über Facebook habe ich darauf hingewiesen. Auch für die Forschung gibt das Thema nicht mehr viel her. Die Grundlagen dessen, was zu tun ist, sind hinreichend erforscht. Es bleibt findigen Startups überlassen, wirklich gute Anwendungen zu erschließen. Diese Situation gab es immer wieder in der Informatik.

Benutzungsoberflächen

Der Begriff, den ich hier benutze, ist noch etwas gewöhnungsbedürftig. Er ist präziser als Bedienoberflächen oder Nutzerschnittstellen. Längst wurde das Wort ‚Bediener‘ durch den Benutzer ersetzt, bis man schließlich eingestand, dass nicht der Nutzer sondern das benutzte System sich anpassen sollte. Lange wurde überschätzt, was allein durch die Oberfläche zu erreichen sei, und wie sehr die gesamte Funktionalität des Systems die Nutzbarkeit beeinflusst, seien es Hardware oder Software. Es ist wie in der Bäckerei. Nicht nur die Glasur bestimmt den Geschmack eines Kuchens.

Computer haben einen langen Weg zurückgelegt, vom Schauraum unter die Tische und dann in die portablen Geräte hinein, die wir für die Gewinnung, Speicherung und Manipulation von Informationen benutzen. Das gleiche gilt für Software. Der Nutzer will, so schnell es geht, zu seiner Anwendung. Eine Nutzungsoberfläche darf auf keinen Fall im Wege stehen und sich anmaßen, besser als der Nutzer zu wissen, was er zu tun hat. Der Ansatz, dass das System sich ein Modell seines Nutzers erzeugen müsse, um so auf seine individuellen Schwächen und Vorlieben reagieren zu können, erwies sich als Irrweg. Erstens wollen Nutzer nicht vom System (je nach Tagesform) als Dummerchen eingeordnet oder gar beleidigt werden. Zweitens wird vergessen, dass Nutzer sich schnell auch an unflexible Systeme anpassen. Beherrschen sie eine Anwendung einmal, wollen sie nicht dauernd umlernen. Meine eigene Erfahrung, gewonnen in einem Kooperationsprojekt mit dem DFKI, besagt: Eine möglichst intelligente Reaktion des Systems kann nie schaden, eine Personalisierung der Nutzer-Interaktion ist jedoch von übel. Sie zieht nämlich einen Rattenschwanz von Problemen nach sich, welche die Kommunikation zwischen Service-Anbieter und Nutzer erschweren.

Mir ist kein Produkt bekannt, in das die vielen Erfahrungen einflossen, die das DFKI auf diesem Gebiet erworben hat. Es gibt weder Leuchttürme noch Leckerbissen. Im Wesentlichen mag dies daran liegen, dass es keine Industrie in Europa gibt, die davon hätte profitieren können, sehen wir von Automobil- und Maschinenbau ab. Auf dem Weltmarkt der Informatik wurden allerdings große Fortschritte erzielt. Allein das, was die Firma Apple zustande brachte, verdient großen Respekt. Man hält dem oft entgegen, das man nur Vorhandenes und Bekanntes geschickt kombiniert habe. Natürlich war es auch die Symbiose von Hardware und Software (Berührbildschirm, später Spracheingabe), die für den Erfolg entscheidend war. Die aktuellen Ziele dieses speziellen Arbeitsgebietes werden heute wie folgt dargestellt (auf der erwähnten Homepage des DFKI):

Im Forschungsbereich Intelligente Benutzerschnittstellen werden die Grundlagen multimodaler Mensch-Technik-Interaktion erarbeitet und personalisierte Dialogsysteme entwickelt, die Sprache, Gestik und Mimik mit physischer Interaktion verbinden. Dabei werden Benutzer-, Aufgaben- und Domänenmodelle verwendet, um das Dialogverhalten jeweils möglichst natürlich und das Dialogverstehen selbst in Gruppendiskussionen oder lauten Umgebungen möglichst robust zu gestalten. Durch die Integration virtueller Charaktere kann auch auf der Ausgabeseite emotionales und soziales Interaktionsverhalten realisiert werden.

Es kommt mir vor, als hätte ich das alles schon einmal gehört. Da fehlt es nicht an Breite noch an Tiefe der Aufgabenstellung. Was aus den Anstrengungen werden soll, ist nicht zu erahnen. Auch nicht, wann mit Ergebnissen zu rechnen ist und wer davon profitieren kann. Ich hoffe, dass diese Unsicherheit nur von meinem Unwissen herrührt.

Bewertung und Einordnung

Es liegt mir fern, alle aktuellen und (sicherlich) attraktiven Forschungsthemen des DFKIs nach ihrer wissenschaftlichen Substanz bewerten. Das tun andere. Meine Sichtweise ist die eines Ingenieurs und Praktikers. Deshalb frage ich mich manchmal nach dem Sinn und Zweck von Forschung – ein Blickwinkel, den ich mir in diesem Blog des Öftern anmaße. Meine Sicht weicht von der üblichen Messlatte ab, mit der in Deutschland die akademische Forschung bewertet wird. Man möge es mir verzeihen.

Die Frage, die ich mir dann stelle, lautet vereinfacht, was bringen das aufgewandte Geld und der Einsatz menschlicher Leistungskraft für das Fach, den Standort und die Menschheit. Mit Fach ist die weltweite Informatik gemeint, wobei ich mir erlaube, Informatik mit Computertechnik inklusive Software gleichzusetzen. Beim Standort geht es um Jobs in unserem Lande und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die Probleme, die alle Menschen betreffen, haben mit Gesundheit, Ernährung, Bildung und Sicherheit zu tun. Dass dem DFKI die aufnehmende Industrie in Deutschland fehlte (oder abhandenkam), kann man nicht dem DFKI zum Vorwurf machen. Zum Glück ist ein streng nationales Denken nicht mehr nötig, da es ja reichlich Geld von der EU oder von internationalen Unternehmen gibt.

Die vorwiegend öffentlichen Geldgeber müssen sich jedoch die Frage gefallen lassen, ob man die Aufwendungen in ein Forschungszentrum von der Größenordnung des DFKI überhaupt noch als Investitionen sehen kann. Wäre dies der Fall, folgt darauf die Frage, wo und wann der Rücklauf, das ‚Return on Investment‘ (ROI) erfolgen kann. Wage ich es, dies laut zu sagen, komme ich mir wie ein Spielverderber vor.

Vermutlich stellt man der deutschen Großforschung auch eine nationale Grundfinanzierung zur Verfügung, um sie in die Lage zu versetzen, sich am Wettbewerb um internationale Forschungsmittel beteiligen zu können. Dann wäre Forschung wie eine olympische Disziplin aufzufassen, wo es ja heißt ‚Dabei sein ist alles‘. Das primäre Ziel der nationalen Förderung wäre es dann, Kapazitäten und Qualifikation aufzubauen und Leistungsvermögen zu demonstrieren. Die Ergebnisse und deren Nutzen wären sekundär. Dass unter dem Deckmantel von Forschung oft nur Ausbildungsziele verfolgt werden, ist in Deutschland ein alter Hut. Das ist durch das deutsche Grundgesetz bedingt, d.h. das Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern. Der Bund darf keine Bildungsaktivitäten fördern. Dafür sind die Länder zuständig. Da diese angeblich arm sind, hilft ihnen der Bund und nennt es Forschungsförderung. In Europa müsste die Situation einfacher sein. Manchmal dient die Forschungsförderung Politikern auch als Mittel, etwas für das Prestige ihrer Wahlbezirke oder Bundesländer zu tun. Am Schluss lasse ich das DFKI noch einmal selbst zu Wort kommen (aus der oben erwähnten Homepage):

Das DFKI engagiert sich in zahlreichen Gremien für den Wissenschafts- und Technologiestandort Deutschland und genießt weit über Deutschland hinaus hohes Ansehen in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Derzeit arbeiten 413 hochqualifizierte Wissenschaftler und 272 studentische Mitarbeiter aus mehr als 60 Nationen an über 232 Forschungsprojekten. Das DFKI dient als Karrieresprungbrett für junge Wissenschaftler in Führungspositionen in der Industrie oder in die Selbstständigkeit durch Ausgründung von Unternehmen. Mehr als 60 Mitarbeiter wurden im Laufe der Jahre als Professorinnen und Professoren auf Lehrstühle an Universitäten und Hochschulen im In- und Ausland berufen.

Diese Zahlen sind beeindruckend. So recht wohl fühle ich mich nicht, wenn ich sie sehe. Aber das liegt an mir. Ich komme dann nicht umhin, an die Politiker der linken Seite des Parteienspektrums zu denken, die meinen, wir Deutschen würden zu wenig Steuern zahlen. Die Mittel des Staates müssten drastisch erhöht werden. Ich bin und bleibe halt ein liberaler Querdenker. Ich fasse meine Bauchschmerzen in einem Schlusskapitel zusammen.

Zwischen Anspruch und Realität

Das DFKI ist nur ein Beispiel öffentlicher Forschung in Deutschland. Ein Vergleich mit bekannten Industrielabors wie denen von Bosch, Daimler, Linde und SAP liegt nahe. Alle vier betreiben zwar primär Produktentwicklung. Sie stellen darüber hinaus jedes Jahr mit mehreren Hundert Patentanmeldungen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis. Das DFKI hat nach 27 Jahren ein einziges erteiltes Patent (Fahrbare Gehhilfe) und ein angemeldetes Patent (Nutzbarkeit von Sprachdialogsystemen) vorzuweisen, sowie drei Offenlegungen. Es wurden weder Produkte noch Dienste vorbereitet.

Wenn man davon ausgeht, dass auch das Bundesforschungsministerium nur eine verschleierte Form der Subvention der akademischen Lehre bezweckt, also Forschung vor allem als Vorwand und Mittel für eine akademische Qualifizierung ansieht, drängt sich die folgende Frage auf. Wenn es Leute während ihrer Ausbildung nicht gelernt haben ingenieurmäßig zu denken, wieso kann man annehmen, dass sie es lehren können und lehren werden? Für die Ausbildung von Informatikern (oder Ingenieuren) sind sie daher wenig geeignet. Ob sie für Linguistik und Soziologie geeignet sind, sei dahin gestellt. 

Es ist außerdem eine Illusion anzunehmen, dass man in der Großforschung sehr viel lernt, was für eine Führungsposition in der Wirtschaft hilfreich ist. Ein Sprungbrett stelle ich mir anders vor. Das Schreiben von Forschungsanträgen hat nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem Erkennen von wirtschaftlichen Potenzialen, der Vermittlung und dem Vorleben von realistischen Zielen oder der Lösung von Interessenkonflikten. In eine Kultur des ergebnisorientierten Denkens und Handels kann man nur hineinwachsen.

Montag, 16. September 2013

Biologie und Philosophie – eine Wechselbeziehung

Mein Freund und langjähriger Kollege Peter Hiemann, der sich schon des Öftern in diesem Blog äußerte, ist ein in der DDR aufgewachsener Mathematiker. Er lebt im Ruhestand da, wo er für sein letztes Projekt von seinem Arbeitgeber hin verschlagen wurde, an der Côte d’Azur. Er wohnt zusammen mit Geneviève, seiner Frau, einer Malerin über der Parfümstadt Grasse, am Abhang der Seealpen, den Alpes Maritimes. Ganz in der Ferne schimmert das Mittelmeer.


Er tut das, was viele Rentner sich wünschen. Er liest sehr viel und macht sich Gedanken über Gott und die Welt. Manchmal argumentiere ich mit ihm (‚streiten‘ ist das falsche Wort), manchmal gebe ich ihm Tipps. Zu letzteren gehörte ein Buch über Niklas Luhmann, das ich ihm anlässlich meines Besuches im Sommer 2010 in Grasse schenkte. Wir hatten uns wiedergefunden, als ich 2007 einen Leserbrief an die Zeitschrift ‚Bild der Wissenschaft‘ schrieb, die er auch im Abonnement bezieht. Seither tauschen wir fast wöchentlich E-Mails aus. Seit ich blogge, liefert er regelmäßig Beiträge. Manche Beiträge schrieben wir auch zu dritt, wobei Hans Diel die Sicht eines Physik-Liebhabers beiträgt.
 

Was ich an Peter Hiemann besonders schätze, ist die Rigorosität, mit der er alle ihn interessierenden Fragen behandelt. Seine DDR-Erfahrung brachte ihn dazu, jede Form von Ideologie und Doktrin kritisch zu bewerten, ja abzulehnen. Er ist geradezu allergisch dagegen. Das betrifft nicht nur den Materialismus Marxscher Prägung, der ihm schon während der Schulzeit in der DDR zuwider war. Ihm geht auch jene Voreingenommenheit gegenüber der jüdisch-christlichen Tradition ab, mit der wir Westdeutsche groß geworden sind. Dass es die Naturwissenschaften sind, die unser Verständnis von der Welt und den Menschen eher weiterbringen als die Geisteswissenschaften, diese Auffassung teilt er mit vielen Zeitgenossen. Hiemanns Augenmerk richtet sich jedoch auf beide Seiten der Erkenntnis-Welten, wobei Biologie und Physik bzw. Soziologie und Philosophie eine besondere Rolle spielen. Philosophisches Denken ohne biologisches Wissen hält er für nutzlos.


Hiemann lässt sich nicht davon abbringen, auch außerhalb der Biologie die Evolution am Werke zu sehen. Das veranlasste mich bereits zu einem eigenen Blog-Eintrag. Überhaupt werden dem Leser dieses Blogs manche der genannten Autoren bekannt vorkommen, so Damasio, Edelmann, Kandel, Küppers und Metzinger.

Ehe ich versuche, Hiemanns Gedankenwelt näher zu erklären, schlage ich vor, dass Sie den Essay lesen, den er mir vor etwas über einer Woche per E-Mail schickte. Ich möchte hinzufügen, dass er mir den Essay sandte, wenige Tage bevor er sich einer Herzoperation unterzog. Seit gestern weiß ich, dass er die Operation gut überstanden hat. Man kann Peter Hiemann keine größere Freude machen, als seinen Essay zu lesen und mit ihm zu diskutieren. Wer es nicht per Kommentare in diesem Blog tun möchte, dem gebe ich auch gerne seine (elektronische) Adresse.

Freitag, 13. September 2013

Auslandsstudium, Berufsweg und Rentnerdasein – zwei Geodäten reflektieren

Gottfried Konecny (*1930, kurz Friedel genannt) und ich (*1932, in diesem Blog Bertal Dresen genannt) lernten uns im Sommer 1955 in Columbus, Ohio, kennen. Ich kam als Austauschstudent von der Universität Bonn dorthin, Friedel war bereits seit einem Jahr dort. Nach einem Jahr, also Ende September 1956, kehrte ich nach Bonn zurück, Friedel nach München. Wir trafen uns im September 2013 zum ersten Mal in Stuttgart wieder, also nach 57 Jahren. Wir leben beide im Ruhestand, Friedel in Hannover, ich in Sindelfingen. Bei dem Treffen vereinbarten wir, dass wir das, was uns bei dem Wiedersehn durch den Kopf ging, in meinem Blog festhalten. Wir wollen dies hauptsächlich für unsere Enkel tun.

 

Bertal Dresen (BD): Gut, dass wir es geschafft haben, uns doch noch zu treffen. Ein paar Versuche schlugen fehl. Da Du immer wieder nach Stuttgart kommst und ich nur 18 km entfernt wohne, musste es ja einmal klappen. Dass es 57 Jahre dauern würde, hätte ich nicht gedacht. Wie geht es Dir? Was bringt Dich dieses Mal nach Stuttgart?

Gottfried Konecny (GK): Ja, es freut mich, dass wir es diesmal geschafft haben. Internet und Telefon sind doch ein schlechter Ersatz für ein persönliches Treffen. Ich bin seit 15 Jahren im Ruhestand, nehme aber immer noch an gelegentlichen fachlichen Tagungen, wie der Photogrammetrischen Woche an der Uni Stuttgart teil, wo an die 300 internationale Teilnehmer zusammenkommen.

BD: Lasst uns über unsere Studienzeit in Amerika reden. Wie Du weißt, kam ich von der Universität Bonn nach Columbus, Ohio. Ich habe in diesem Blog schon mal einen ganzen Eintrag Ohio und dem Mittleren Westen gewidmet. Wir können also selektiv vorgehen. Für einen Studenten der Geodäsie war die Ohio State University damals sehr attraktiv, Sie besaß ein Institute of Geodesy, Photogrammetry and Cartography, damals eine Seltenheit in den USA. Schon in Bonn hatte ich den Namen von Professor Weikko Heiskanen gehört. Er war Finne, und verwandte gravimetrische Methoden zur Bestimmung der Erdgestalt. Was hatte Dich nach Columbus gebracht? Wieso bliebst Du zwei Jahre? Du hast, wie ich weiß, in Columbus einen formellen Abschluss (M.Sc.) erworben.

GK: Auch ich hatte in den Vorlesungen von Prof. Max Kneißl in München von Prof. Weikko Heiskanen gehört. Er berichtete nach einem Kongress in Rom, dass in Columbus, Ohio auf Anregung des US Militärs eine erste geodätische Ausbildungsstätte in den USA mit europäischen Professoren eingerichtet werden sollte. Da entschloss ich mich eine Bewerbung für ein Fulbright-Stipendium der US-Regierung einzureichen. Ich war erfreut, dass ich das Stipendium im August 1954, noch vor Abschluss des zweiten Teils meiner Hauptdiplomprüfung, aber nach Abschluss aller Voraussetzungen dafür antreten konnte. So konnte ich an der Ohio State University direkt als Kandidat für den M.Sc. immatrikuliert werden.

BD: Sprechen wir zunächst über die allgemeinen Eindrücke von Land und Leuten. Mich beeindruckte vor allem die Größe des Landes. Ich war vorher außer in Deutschland nur in Luxemburg, Belgien und Frankreich gewesen. In dem Jahr Amerika machte ich drei große Reisen. Zwei davon, die nach Louisiana/Texas und nach Kalifornien machten wir zusammen. Mich faszinierten vor allem die Landschaften, die es in Europa nicht gibt, so die Wüsten im Südwesten, die Rockies aber auch die Bajous des Süden. Auch die Vielseitigkeit seiner Bevölkerung überraschte mich, angefangen mit den Indianern über die ehemaligen Sklaven, die Neger, zu den diversen Einwanderergruppen aus Europa und Asien. Woran denkst Du, wenn Du heute an Amerika und Amerikaner allgemein denkst?

GK: Meine ersten Eindrücke von den USA sind in meiner Erinnerung vielleicht dadurch überschattet, dass ich insgesamt 14 Jahre in Nordamerika gelebt und gearbeitet habe, ich bin ein halber Nordamerikaner geworden. Gleich nach meinem Eintreffen in den USA im August 1954 merkte ich, dass ich durch mein Stipendium gut versorgt war. Die durch die dauernde damals noch dürftige Mensakost in München verursachten Verdauungsbeschwerden verschwanden plötzlich durch das reichhaltige amerikanische Essen. Auch konnte ich mir von meinem Büchergeld bald einen Gebrauchtwagen leisten, ich lernte fahren, machte den Führerschein und begab mich auf Erkundung durchs schöne herbstliche Ohio.

 
BD: Einige sehr konkrete Dinge fallen mir ein, wenn ich an das Leben auf dem Campus, dem Universitätsgelände, denke. Es war wie eine Welt für sich, abgetrennt vom Rest der Stadt. Hier drehte sich alles um die Studenten. Es gab die Häuser der ‚Fraternities‘ und der ‚Sororities‘, und immer wieder Feste und Umzüge. Alle standen Kopf, wenn es drum ging, die Heimspiele der Football-Mannschaft zu feiern. Ich war zum Graduate Studium zugelassen unter Angestellten der Coast Guard oder von Erdölfirmen. Es gab auch viele Ausländer. Wir duzten die Professoren. In der Undergraduate School, wo ich spaßeshalber eine Mathematikvorlesung hörte, wurden die Studenten aufgeteilt auf drei Hörsäle mit je etwa 50 Studenten und einem eigenen Vortragenden. Es waren recht komfortale Verhältnisse, verglichen mit den Massenveranstaltungen in einigen Fächern in Deutschland. Die Bibliothek der Universität und der Campus-Buchladen zogen mich besonders an. Wie hast Du das Studium in Erinnerung? Du hattest den Flugschein erworben und ich begleitete Dich bei Rundflügen über ganz Ohio.

GK: Ich hatte Glück einen Platz im Internationalen Haus zu bekommen. Dort wohnte ich mit internationalen Studenten aus Argentinien, Syrien, den USA, Hongkong, Guatemala, Kanada und Großbritannien. Wir hatten gute Kontakte zum Internationalen Haus der Damen, wo wir bald Amerikanerinnen, Japanerinnen, Chileninnen. Inderinnen und Hawaiianerinnen kennenlernten, eine Art Paradies, in welchem ich meinen 25. Geburtstag feiern durfte. Natürlich wurde eine Weihnachtswoche in Florida und ein Skiwochenende in Michigan eingeflochten. An der Universität konnte ich neben dem Besuch der Fachvorlesungen auch den Flugzeugführerschein am University Airport absolvieren.

BD: Als ich nach Deutschland zurückkehrte, machte ich mein Diplom. Alle meine Semesterkollegen traten zunächst Stellen als Referendare an, selbst wenn sie in die akademische Laufbahn wollten. Dem folgte die Assessor-Prüfung und – in den meisten Fällen – eine lebenslange Anstellung als Beamter. Ich dachte zunächst viel kurzfristiger. Ich hatte in den USA elektronische Rechner kennen gelernt. Ich wollte zunächst meine Kenntnisse auf diesem Gebiet vertiefen (und eventuell promovieren). Ich ließ die Anwartschaft auf eine Referendarstelle verfallen und trat ‚ins kalte Wasser‘, indem ich 1957 eine Stelle in der Industrie antrat. Was unternahmst Du nach Deiner Rückkehr nach Deutschland? Du warst wieder in München.


 GK: Das recht bequeme Leben ging für mich zu Ende nach Abschluss meines M.Sc. im März 1956. Denn dies bedeutete auch das Ende meines Stipendiums. Es war aber nicht schwierig ein Graduate Assistantship bei Prof. Heiskanen (Geodäsie) und bei Prof. Doyle (Photogrammetrie, also Luftbildauswertung) zu erhalten, das mein Einkommen als Ph.D. Student sicherte. Darüber hinaus bekam ich am Ohio State Highway Department einen Abend-Job als photogrammetrischer Schichtauswerter, der mir half die zweimonatige Auszeit bei einer Reise in den amerikanischen Westen, gemeinsam mit Dir, zu finanzieren. Eine solch intensive Reise durch den amerikanischen Westen war mir später aus Zeitgründen nie mehr möglich [1].

BD: Der größte Gewinn meines (ersten) Amerikaaufenthaltes war, dass ich eine ziemlich freie und dynamische Gesellschaft kennen gelernt hatte. Der typische Amerikaner, dem ich begegnet war, stammte aus Einwanderfamilien ab. Man glaubte, etwas erreicht zu haben und wollte wirtschaftlich weiter aufsteigen. Es herrschte eine optimistische Grundhaltung. Es gab aber auch krasse Gegensätze. Für Schwarze und Indianer sah Alles weniger rosig aus. Andere sonderten sich freiwillig ab, etwa die Amish, eine aus Deutschland stammende protestantische Sekte in Ohio und Pennsylvanien. Ein weiterer großer Gewinn war die Sprache. Anstatt Schulenglisch zu radebrechen konnte ich mich ausdrücken. Siehst Du es ähnlich? Was faszinierte Dich?

GK: Für mich war damals schon klar, dass mir der Stipendienaufenthalt in Ohio eine einmalige Chance für mein Berufsleben, und mein Leben überhaupt, geboten hatte. Ich hätte gern meinen Ph.D. in Ohio gemacht, aber ich wollte noch meine Diplomhauptprüfung in Deutschland abschließen. Aber die Annahme des Fulbright-Stipendiums erforderte von mir, dass ich nach Deutschland zurückkehren musste und für drei Jahre keinen Einwanderungsantrag in die USA stellen durfte. Doch da bot sich mir eine Chance. Mein Lehrer, Prof. Richard Finsterwalder an der TH München bot mir an, nach Abschluss des Hauptdiploms in München eine Assistentenstelle bei ihm anzutreten. Deshalb entschloss ich mich zur Rückkehr nach München im September 1956.


 BD: Aus einem Praktikum bei der Firma IBM in Sindelfingen, das ursprünglich nur sechs Monate dauern sollte, wurde bei mir eine Festanstellung für 35 Jahre. Ich programmierte am Anfang den Rechner IBM 650. Nach zwei Jahren erhielt ich die Aufgabe, ein zweites Rechenzentrum der Firma in Düsseldorf einzurichten. Hier hatte ich zum letzten Mal Gelegenheit auch geodätische Anwendungen (Auswertung von Luftbildmessungen) zu programmieren. Bald nahmen allgemeine technische Anwendungen (Differentialgleichungen) und kaufmännische Problemstellungen (Lohn und Gehalt) die Überhand. Hier lernte ich auch meine Frau kennen und hier heirateten wir. Meine Frau begleitete mich anschließend bei meinen weiteren Auslandsaufenthalten. Wie begann Deine Berufslaufbahn? Du warst noch einmal in Amerika, wenn ich es recht in Erinnerung habe. Was wurde aus Deiner Fliegerei?

GK: Mit den Vorarbeiten in Ohio war es mir während meiner Assistentenstelle in München möglich ein Dissertationsthema zu finden und den Dr. Ing. in drei Jahren abzuschließen. Da ich aber das freie und kooperative amerikanische Leben kennen gelernt hatte, zog es mich wieder nach Nordamerika. Wenn es aus Visumsgründen auch nicht die USA sein konnten, dann doch Kanada. Dort hatte ich im Herbst 1959 zwei Angebote: eins am National Research Council in Ottawa und ein anderes an der University of New Brunswick in Fredericton. Ich hatte in der Zwischenzeit in München geheiratet und meine Frau bevorzugte die kleinere Stadt und das akademische Leben. Auch das war ein Volltreffer. Kanada brauchte ein Vermessungsstudium, das ich dort aufbauen durfte. Ich erhielt von der Regierung in Ottawa und vom Universitätspräsidenten volle Unterstützung, und so blieb ich dort bis März 1971. Die Fliegerei habe ich meiner Frau zuliebe aufgegeben.

BD: Mitte 1962 erhielt ich die Chance, in den Entwicklungsbereich der Firma IBM überzuwechseln. Ich verbrachte ein Jahr im französischen Labor der Firma in der Nähe von Nizza, ehe ich, dieses Mal mit Familie, ein zweites Mal in die USA ging. Ich war in New York City tätig, und in Poughkeepsie, NY. Ich wirkte zuerst an der Definition der Programmiersprache PL/I mit, danach an der Entwicklung des Betriebssystems OS/360. In diese Zeit fiel die Kennedy-Ermordung.

Seit 1965 war ich wieder in Deutschland tätig, und zwar im IBM Labor Böblingen. Das ist südlich von Stuttgart. Seither wohne ich in Sindelfingen, am besten bekannt als Sitz des größten PKW-Werks von Daimler-Benz. Meine Arbeitsgebiete waren Übersetzer für Programmiersprachen (Algol, PL/I), danach waren es Betriebssysteme und Datenbanken. Ich hatte viele Kontakte zu amerikanischen, europäischen und asiatischen Kollegen und machte während meiner IBM-Zeit etwa 50 Dienstreisen in die USA. Dabei besuchte ich nicht nur die Ostküste, sondern auch Florida, Texas und Kalifornien. Im Jahre 1975 konnte ich eine Promotion in Informatik abschließen. Um dieselbe Zeit erhielt ich einen Lehrauftrag im Gebiet Software Engineering an der Universität Stuttgart. Unsere drei Kinder sind in drei verschiedenen Ländern geboren, die älteste Tochter in Frankreich, der Sohn in den USA und die jüngste Tochter im Schwabenland. Das war ein Schnelldurchlauf meinerseits. Wie sah Deine weitere Laufbahn aus? Welche besonderen Höhepunkte oder Herausforderungen hatte sie?

GK: Durch unseren früheren Lehrer, Prof. Doyle von der Ohio State University, erhielt ich die Gelegenheit ein Sabbatical Year bei der NASA in Houston zu verbringen, wo wir 1966 bis 1967 Landezonen mit geringster Neigung für die Apollomissionen zum Mond auswählten. Dies geschah mit Lunar-Orbiter-Aufnahmen, die per Funk zur Erde zurückgesandt wurden, in Houston rekonstruiert wurden und mit denen digitale Höhenmodelle abgeleitet wurden. Das brachte mich zu internationalen Tagungen und Einladungen nach Europa. In Hannover wurde ich gefragt, ob ich dort eine Professur annehmen würde. Ich rief meine Frau an, sie sagte spontan „das wäre schön“. Also sind wir seit 1971 in Hannover.

 
BD: Mit meinem 60. Geburtstag, also Ende 1992, bot mir die Firma die Möglichkeit, in den vorgezogenen Ruhestand zu treten. Ich führte meine berufliche Tätigkeit aber noch vier Jahre weiter, und zwar als Professor für Informatik an der TU München. Seit ich endgültig im Ruhestand bin, unternahm ich mehrere Reisen in Asien (China, Japan), Südamerika und die Südsee. Ich machte auch eine Reise um die Welt in 18 Tagen. Ich pflege noch Kontakte zu vielen Kollegen im In- und Ausland und betätige mich seit drei Jahren als Blogger. Bei Dir als Hochschullehrer gab es vermutlich ein langsames Ausklingen der beruflichen Tätigkeit? Ganz zur Ruhe bist Du anscheinend auch noch nicht gekommen?

GK: Durch meine internationale Ausrichtung ist es mir in Deutschland leicht gefallen die Photogrammetrie mit der internationalen Arbeit zu verknüpfen. Ein Thema war die Entwicklungszusammenarbeit durch GTZ (jetzt GIZ), UNDP, FAO und Weltbank, die mich zu Projekten in viele Länder Asiens, des Mittleren Ostens, Afrikas und Lateinamerikas führte. Ein weiteres war das Engagement in der Internationalen Gesellschaft für Photogrammetrie und Fernerkundung (ISPRS), die mich bis heute nicht zur Ruhe kommen lässt.

BD: Wegen meiner beiden USA-Aufenthalte hatte ich mir angewöhnt, in vielen Diskussionen die Sichtweise der Amerikaner zu vertreten. Immer öfter geriet ich auch in die Rolle von jemandem, der die Amerikaner verteidigte. Besonders während der Präsidentschaft von Ronald Reagan und George W. Bush war diese Aufgabe nicht immer einfach. Meine europäischen Bekannten sympathisierten eher mit Bill Clinton und Barak Obama. Dabei sind die Republikaner genauso ein Teil der USA wie die Demokraten. Wie erging es Dir in dieser Hinsicht? Dachtest Du daran, ganz nach Amerika überzusiedeln? Was hielt Dich in Deutschland?

GK: Wenn man lange im Ausland lebt, so glaubt man oft, dass man etwas von daheim in Deutschland vermisst. Wenn man nach langer Zeit wieder in Deutschland ist, vermisst man Amerika. Viele meiner Ideen sind bis heute nordamerikanisch geblieben. Mein Stil als Institutsleiter an der Hochschule war bewusst nordamerikanisch. Das hat sich auch auf meine beiden Kinder übertragen. Meine Tochter lebt seit 12 Jahren in England und mein Sohn seit 14 Jahren in den USA. Das hat sicher etwas mit unseren liberalen Werten zu tun. Wir sind kulturell Europäer geblieben, aber wir sind froh, dass es Länder, wie die USA, Kanada und auch Australien gibt, in denen wir uns wohl fühlen dürfen.

BD: Es ist erstaunlich zu sehen, wie der ursprüngliche Studienaufenthalt in den USA unser beiden Leben verändert hat. Du gingst später für nochmals 12 Jahre nach Nordamerika, ich ging zu einem internationalen Unternehmen. Wir schlugen beide einen Berufsweg ein, wie er für deutsche Geodäten etwas ungewöhnlich ist. Ich hatte großes Glück, dass mir diese Möglichkeiten geboten wurden. Ich bereute es keine Minute, diesen Weg gegangen zu sein.

GK: Senator Fulbright hatte durch Errichtung seiner Stipendien eine hervorragende Idee, die mein Leben, das meiner Frau, meiner Kinder und Enkelkinder gestaltet hat. Wir alle hatten als Überlebende des Zweiten Weltkriegs die Chance unser Leben in einer Zeit von 68 Jahren Friedens aufzubauen. Dafür sollten wir dankbar sein.

BD: Wie ich Dir bereits sagte, habe ich unser Wiedersehen sehr genossen. Vielen Dank auch, dass Du die Idee eines Interviews aufgegriffen hast. Ich hoffe, meine Leser genießen diesen autobiografischen Abstecher.

Zusätzliche Referenz:

  1. Alle Reiseberichte aus den USA sind enthalten auf der CD Gunst und Kunst des Reisens aus dem Jahre 2009. Die CD ist auf der Homepage ihres Autors im Abschnitt Media beschrieben.

Dienstag, 10. September 2013

Hasso Plattner über Big Data, Cloud Computing und deutsche Besonderheiten

Hasso Plattner (*1944) ist Deutschlands erfolgreichster und einflussreichster Informatiker, zumindest im internationalen Vergleich und aus Sicht der Praxis. Er gründete 1972, zusammen mit vier Kollegen die Firma SAP, in der er 1979 die Gesamtverantwortung für den Bereich Technik übernahm. Später war Plattner gleichberechtigter Vorstandssprecher der SAP AG neben Dietmar Hopp. Plattner leitete unter anderem das Forschungs- und Entwicklungszentrum der SAP im kalifornischen Palo Alto, das 1998 gegründet wurde. Außerdem nahm er einen Lehrauftrag im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Saarbrücken wahr. Seit 2003 ist Plattner Aufsichtsratsvorsitzender der SAP AG. Plattner besitzt laut Forbes-Magazin ein geschätztes Vermögen von nahezu sieben Milliarden US-Dollar. Seit seinem Rückzug aus dem Tagesgeschäft der SAP engagiert sich Plattner als Mäzen. Er gilt als einer der bedeutendsten privaten Wissenschaftsförderer in Deutschland. Im Jahre 1998 gründete er das Hasso-Plattner-Institut (HPI) für Software-Systemtechnik an der Universität Potsdam. Anfang Oktober 2005 richtete Plattner mit der Stanford University das ‛Hasso Plattner Institute of Design“ ein. Plattner hat Nachrichtentechnik an der Uni Karlsruhe studiert. Er war von 1968-1972 als Systemberater bei der IBM in Mannheim tätig.                                                         

 

Bertal Dresen (BD): Der deutsche Bill Gates, so werden Sie von John Hennessy (Stanford) und Dave Patterson (Berkeley) genannt, zwei amerikanischen Computer-Pionieren. Wie jeder Vergleich so beleuchtet auch dieser nur einen Teil der Wahrheit. Gelesen habe ich diesen Vergleich im Vorwort Ihres im Jahre 2011 erschienenen Buches mit Alexander Zeier. Das Thema ‚In-memory Data Management‘ brächte die Welt der Transaktionen (OLTP) und der Datenanalyse (OLAP), manchmal auch ‚Big Data‘ genannt, zusammen - so heißt es dort. Das darauf aufbauende HANA-System scheint sich geradezu zu einem Alleinstellungsmerkmal von SAP entwickelt zu haben. Worauf führen Sie die erstaunliche Resonanz auf Ihr aktuelles technisches Anliegen zurück?

Hasso Plattner (HP): Ich hatte das Glück ein großes Experiment an der Hochschule durchführen zu dürfen. Als wir starteten, war die Idee, alle Daten einer operativen Datenbank im Hauptspeicher zu verwalten, nur für kleinere oder mittlere Anwendungen praktikabel. Aber Dank Google und guter Beziehungen zu den Entwicklern im Hardware Bereich, konnten wir sehen, wohin die Entwicklung gehen würde. Mit acht Cores und 32 Giga Byte Memory haben wir angefangen, heute sind 80 Cores und vier Tera Byte Memory Standard und nächstes Jahr bekommen wir 128 Cores und 12 Tera Byte Memory von mehreren Herstellern geliefert. Alles für einen ‘node’ und davon können wir bis zu 25 zusammenschalten. Alle Forschung hatten wir auf diese Entwicklung ausgerichtet. Vor etwas mehr als drei Jahren konnte ich die SAP überzeugen, ihre drei Datenbankgruppen zusammenzulegen und alle Kräfte auf die Entwicklung einer In-Memory Datenbank zu konzentrieren. Wir hatten Tests mit Echtdaten von großen SAP-Kunden am HPI gemacht und waren sicher, dass eine spaltenorientierte In-Memory Datenbank nicht nur für OLAP sondern auch für OLTP funktionieren würde. Wir haben unsere Forschungsergebnisse fleißig publiziert, aber stießen am Anfang auf die typische Skepsis des Establishments.

Heute ist die SAP kurz davor, alle ihre Anwendungen auf der Datenbank HANA anzubieten. Es ist wie immer im Technologiesektor: das Timing muss stimmen.

BD: Natürlich gibt es auch Kollegen, die in HANA nicht die Lösung aller Informatik-Probleme der Wirtschaft sehen. Sie fragen sich, ob wir einige der Grundkonzepte von Datenbankensystemen wie Atomarität, Konsistenz, Isoliertheit und Dauerhaftigkeit (auch ACID-Konzept genannt) neu durchdenken müssen. Oder sind sie überflüssig geworden? Welche andern Probleme hat die Informatik-Industrie nach Ihrer Meinung zu lösen? Oft wird z. B. der Energiebedarf unserer Geräte als gravierendes Problem angesehen.

HP: Erst einmal, ohne ACID geht bei Geschäftsanwendungen gar nichts. Allerdings sind einige Fragen wie das gleichzeitige Verändern von Personaldaten von der Anwendung zu lösen. Wir glauben, die Datenbank weitgehend sperrfrei zu machen und auch das Betreiben von Replikaten auf der gleichen Persistenzbasis (SSD oder Disk) mit Millisekunden Verzögerung stellt kein wirkliches Problem dar. Jede Transaktion sieht die Daten, die zu seiner Startzeit aktuell waren. Die scharfe Definition von OLTP ist das Problem. Die betriebswirtschaftliche Nutzung braucht heute eine Datenanalyse in Echtzeit (online shopping, trading, optimization by iteration, etc). Neben dem großen Geschwindigkeitsgewinn ist die Verringerung des Daten-‘footprint’ zu beachten.

Brauchen wir nur noch 10-20% an Speicherplatz, gehen die Kosten für die Haltung der Daten im Speicher gewaltig zurück. Denken Sie einmal an die Kosten der Entwicklungs-, Test-, und Archivierungssysteme und ihre laufenden Kosten. Die Hardwarehersteller tun ihr übriges, den Energiebedarf zu senken.

Kann eine Datenbank alles lösen? Erst einmal ist HANA eine Plattform für Anwendungen, also mehr als eine reine Datenbank. Für viele Anwendungsbereiche gibt es vorgefertigte Bibliotheken (Geschäftsfunktionen, Planung, Vorhersagemodelle, Genom basierte Operationen, und vieles andere). Aber damit ist bei weitem nicht alles gelöst. Aber die Tatsache, dass über 600 Start-up-Firmen mit der HANA-Plattform experimentieren und nahezu 50 schon ihre Produkte auf der Basis von HANA anbieten, gibt Zeugnis von dem Potenzial zu Problemlösungen beizutragen.

BD: Ein ganz starker Trend ist sicherlich die Zunahme mobiler Geräte. Einerseits bilden Smartphones (oder portable Apparate aller Art) immer mehr die Schnittstelle zum Menschen, andererseits erlauben Sensoren (und Aktoren) immer mehr die Steuerung technischer Prozesse in allen Branchen. Wo liegen hier die größten Herausforderungen? Stellt nicht der Wunsch, auch im Beruf dieselben Geräte zu verwenden, die man privat benutzt, die Unternehmen vor große neue Aufgaben?

HP: Die weltweite Einführung der Smartphones bedeutet eine ähnliche Revolution wie die Erfindung des PCs. Wenn man das Smartphone benutzt, erwartet man die Antwort in weniger als drei Sekunden. Dialoge müssen, wie auf dem PC, in weniger als einer Sekunde erfolgen. Diese Tatsache hat entscheidenden Einfluss auf die zukünftigen Anwendungen. Die SAP hat mit den HANA basierten Anwendungen den richtigen Weg eingeschlagen und die Antwortzeiten, auch für kompliziertere Programme, dramatisch verkürzt. Praktisch ist der Begriff ‘batch program’ nicht mehr aktuell.

Apple hat gezeigt, dass eine ähnliche Oberfläche für das iPhone und das iPad beim Benutzer sehr willkommen ist. Die Anwendungen müssen auf diese Geräte angepasst werden. Mit dem Internet erreichen wir heute nahezu alle Geräte (Kameras, Haustechnik, Autos, Maschinenbedienung, etc.) der digitalen Welt und können sie einbeziehen in unsere Anwendungen, egal ob ‘home’ oder ‘business’.

BD: Viele Kollegen sehen im Cloud Computing den Alles bestimmenden Trend. Es löst nicht nur die Probleme beschränkter Kapazität und fixer Kosten bei schwankendem Bedarf. Es verspricht vor allem eine Befreiung von jeder Form der Technologie-Abhängigkeit. Wird der Kunde nur noch Dienste in Anspruch nehmen und keine Informatik-Produkte (außer den erwähnten mobilen Endgeräten) mehr kaufen müssen? Werden die damit zusammenhängenden Probleme nicht oft heruntergespielt? Bringt das gerade ins Bewusstsein gerückte Problem der Ausspähung aller im Internet verfügbarer Daten dieses Geschäftsmodell für viele Anwender zu einem jähen Ende?

HP: Jawohl, Anwendungen in der Cloud bieten einen höheren Grad an Flexibilität und können auch im Schnitt zu einem billigeren Angebot führen. Ob der Kunde mietet oder kauft, ist nicht der wirkliche Unterschied. Der große Unterschied in der Cloud liegt in der Standardisierung der Softwareschichten: Betriebssystem, Datenbanksystem, Rechenzentrumsdienste usw. Für kleinere Anwendungssysteme können mehrere Kunden sogar die gleichen Anwendungsprogramme nutzen (Multi-Tenancy oder Mandanten System). Die Sicherheitssysteme sind die gleichen wie im “on premise“-Fall. Der Cloud-Dienstleister hat alle Motivation, einen kostenoptimalen Betrieb zu ermöglichen und kann permanent Vergleiche zwischen verschiedenen Kunden ziehen. Dies führt in aller Regel zu einer besser optimierten Gesamtlösung.

Das Problem der Ausspähung muss getrennt betrachtet werden.

BD: Nach Meinung vieler Kollegen besitzt die Firma SAP eine besondere Stärke darin, dass sie nicht nur das operative Geschäft (das so genannte Backend) automatisiert, sondern seine Kunden dabei unterstützt, alle Aspekte eines flexiblen Geschäftsprozesses für die Automatisierung in Betracht zu ziehen. Stichwort Prozess-Modellierung. Die aktuelle Betonung von OLTP und OLAP deutet daraufhin, dass das Backend eine bevorzugte Beachtung erfährt. Sehe ich das falsch? Muss ein Anbieter, der dauerhaften Erfolg haben will, nicht auch laufend neue Anwendungen erschließen?

HP: Die Wiedervereinigung von OLTP und OLAP ist ein riesiger Schritt, der neue Möglichkeiten in den Geschäftsprozessen ermöglicht. Neue Anwendungen sind nun möglich und werden mit Hochdruck erarbeitet. Der Wegfall der klassischen ‛batch'-Programme ist nur ein Beispiel. Entschieden werden aber auch die kaufmännischen Anwendungen am ‘front end’. Die Benutzer wollen den gleichen Komfort wie in den besten Konsumeranwendungen auch bei ihrer Arbeit. SAP entwickelt deshalb ein komplett neues ‚user interface‘. Es wird Schritt für Schritt in kompatibler Weise zur Verfügung gestellt und wird das alte in Zukunft ersetzen.

BD: SAP hat sehr früh den Schritt zur Internationalisierung des Geschäfts unternommen. Das bezieht sich vor allem auf die Kunden. Der phänomenale Erfolg ist nur so zu erklären. Wie ich in meiner Beschreibung der Firma in diesem Blog hervorgehoben habe, hat SAP auch seine Entwicklung stärker dezentralisiert als andere vergleichbare Firmen. Das hat doch neben Vorteilen sicher auch Nachteile?

HP: Heute bin ich der Überzeugung, dass eine Dezentralisierung technisch viel leichter möglich ist. HANA wurde in über zehn Lokationen rund um den Globus entwickelt. Ich glaube, dass die verteilte Entwicklung ein höheres Potenzial hat und sehe die Bestätigung vor allem in hoch kreativen Unternehmen.

BD: Sie selbst verbringen zwar einige Monate pro Jahr in Kalifornien, haben aber starke Beziehungen zum deutschen Standort. Ich denke zum Beispiel an Ihr Engagement in Potsdam. Worin sehen Sie die Besonderheiten des Standorts Deutschland? Was raten Sie den Kollegen, einmal denen an den Hochschulen, zum andern den deutschen Unternehmen unserer Branche? Haben Sie Wünsche an die deutsche Politik, was deren Industriepolitik in den nächsten Jahren betrifft?

HP: Viele Dinge sind sehr gut in Deutschland, wie unsere Gründlichkeit, die Begabung mechanische und mathematische Aufgaben zu lösen, die Treue zu einer Firma usw. Wir müssen aber mehr auf die Menschen eingehen. Ihnen wollen wir doch die Arbeit oder die Freizeit besser gestalten, also müssen wir sie richtig einbinden in den Entwicklungsprozess. Andere sind hier pragmatischer oder haben einfach mehr Gefühl für die Anwender.

BD: Am Schluss meines erwähnten Blog-Beitrags brachte ich eine persönliche Beobachtung zum Ausdruck. Ich schrieb: 


Obwohl SAP eindeutig das global am besten aufgestellte deutsche Informatikunternehmen ist, könnte der Ruf unter Informatik-Absolventen noch besser sein. Die Firma müsste eigentlich auch für Kerninformatiker sehr interessant sein, und nicht nur für Wirtschaftsinformatiker. 
 
Sehen Sie das auch so? Wenn ja, müsste und könnte man da etwas tun? Vielleicht bietet Ihnen dieses Interview in dieser Sache einen Kommunikationskanal.

HP: Also, SAP ist höchst interessant für Kerninformatiker. Ein Großteil des Umsatzes kommt heute schon von Technologiesystemen wie HANA, Business Objects, mobile Kommunikation, Entwicklungsplattform usw. Wenn wir hier ein falsches Image haben, wird es höchste Zeit, das zu ändern.

BD: Ich danke Ihnen sehr für dieses Interview. Vielleicht kann es dazu beitragen, Ihren so eloquent vorgetragenen Anliegen unter meinen Lesern den Weg zu ebnen.


Nachtrag im Januar 2014

Ein späterer Blog-Eintrag enthält eine Rezension von Hartmut Wedekind von Hasso Plattners Buch über In-Memory Data Management.