Samstag, 31. Mai 2014

Europa hat gewählt – was nun?

In der Zeit zwischen dem 22. und 25.5. haben 28 EU-Länder ein neues, so genanntes Parlament gewählt. Ich mache absichtlich eine Einschränkung bei der Benutzung des Begriffs Parlament, weil dieses Parlament nicht die vollen Funktionen einer Volksvertretung besitzt. Das Bundesverfassungsgericht sieht dies bekanntlich auch so. Bekannte Einschränkungen sind, dass es weder Gesetze initiieren kann, noch aus seiner Mitte eine Regierung bilden kann, noch seinen Sitzungsort selbst wählen kann. Daran wird sich in naher Zukunft auch nichts ändern. Trotzdem ist es interessant, einige der nach der Neuwahl anstehenden Fragen zu stellen, etwa diese: Welche Folgen wird diese Wahl in Europa haben? Welche Initiativen seitens der EU sind zu erwarten? Was wird sich für uns EU-Bürger ändern? Wie geht es weiter mit dem Projekt Europa?

Wahlverlauf und Wahlergebnis

Zum ersten Mal bestimmten die Kandidaten für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission den Wahlkampf. Martin Schulz und Jean-Claude Juncker tourten durch ganz Europa und bestritten diverse Talkshows. Die Wahlbeteiligung lag geringfügig höher als 2009. Das betraf vor allem Litauen und die beiden Krisenländer Griechenland und Zypern, aber auch Deutschland, wo in einigen Ländern gleichzeitig Kommunalwahlen stattfanden. Im Gesamtergebnis liegt die EVP an der Spitze, die Juncker als ihren Kandidaten nominiert hatte. Schulz sträubte sich (so wie 2005 sein Parteifreund Gerhard Schröder) zunächst gegen die Niederlage. Er lenkte jedoch innerhalb weniger Tage ein und ließ Juncker vom gesamten Parlament zum Wahlsieger erklären.

Das Besondere am Wahlergebnis ist der starke Zuwachs europa-kritischer Parteien in vielen Ländern. In Frankreich erreichte der Front National (FN) von Marine Le Pen glatte 25% und wurde zur stärksten Partei des Landes. In England verdoppelte Nigel Farage den Anteil der Stimmen für die Unabhängige Partei (UKIP) auf 27,5%. Sowohl UKIP wie der FN fordern den Austritt ihres Landes aus der EU. In Österreich gewann die Freiheitliche Partei (FPÖ) fast 20% der Stimmen. In Griechenland liegt die linke europa-feindliche Partei Syriza vorne (26,6%). In Deutschland hat es die Alternative für Deutschland (AfD) von Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel geschafft von null auf 7% zu gelangen. Die AfD verlangt die Abschaffung des Euro bzw. die Spaltung in einen Nord- und Süd-Euro, will aber die EU beibehalten. Zusammen erhielten die europa-kritischen Parteien 119 der 751 Abgeordnetensitze (15,8%)..

Bildung der neuen Exekutive

Gemäß dem Vertrag von Lissabon von 2007 wird der Präsident der Kommission vom Ministerrat vorgeschlagen und vom Parlament gewählt. Dass sich das Parlament so schnell einigen konnte, ist ein Indiz dafür, dass die Schwierigkeiten für die Bildung einer Exekutive ganz wo anders liegen. Als Exekutive (ein Begriff der im besagten Vertrag nicht vorkommt) bezeichne ich die gesamte Kommission inklusive Außenbeauftragtem sowie den Ratspräsidenten.

Es war David Cameron, der britische Premierminister, der angesichts der Europa-Müdigkeit in seinem Lande davor warnte, so weiter zu machen wie bisher. Es müssten effektive Maßnahmen zum Abbau des Brüsseler Wasserkopfs ergriffen werden. Das könnten aber nicht Leute, die wie Juncker und Schulz mit dem bisherigen System verwachsen sind. Es müssten neue Leute her. Alles andere ignoriere den Wählerwillen. Dem scheinen sich der Ungar Viktor Orban, der Holländer Mark Rutte und der Schwede Fredrik Reinfeldt anzuschließen. François Hollandes Reaktion ist mir nicht bekannt. Angesichts dieser Diskussion hat Bundeskanzlerin Merkel Abstand davon genommen, den EVP-Kandidaten Juncker um jeden Preis durchzusetzen. Da sie dafür vor allem von ihrem deutschen Koalitionspartner, der SPD, kritisiert wurde, hat sie inzwischen zu Junckers Gunsten umgeschwenkt.

Der Ministerrat hat den derzeitigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy beauftragt zu sondieren, Er soll bis Ende Juni sowohl eine inhaltliche Strategie für die nächste Legislaturperiode unterbreiten, sowie Vorschläge für das Führungspersonal, das diese Strategie implementieren kann. Das klingt nicht schlecht. Man muss fragen, warum diese Arbeit nicht bereits vor der Wahl zumindest teilweise gemacht wurde. Die Antwort: So funktioniert die Europa-Politik leider nicht. Erst die Wahl hat die Fakten geschaffen, die dazu führen, dass einige Leute mit dem Nachdenken beginnen. Im Folgenden will ich einige Gedanken formulieren ähnlich denen, die möglicherweise auch Herman Van Rompuy durch den Kopf gehen werden.

Mögliche Strategien für die Exekutive

Die Aufgabe einer Exekutive ist es, Fakten zu schaffen. Im Falle der EU-Kommission werden ihre Aufgaben primär von den Mitgliedsstaaten festgelegt. Deren Organ ist der Ministerrat. Alle bisherigen Verhandlungen deuten in Richtung einer Großen Koalition für die nächsten fünf Jahre, d.h. einem ausbalancierten Geschäft zwischen Konservativen und Sozialisten. Rein zufällig lassen sich damit auch die deutschen politischen Verhältnisse sehr gut abbilden. Mit Ausnahme der in Hamburg erscheinenden Wochenzeitung Die Zeit hat bisher kein Beobachter die Sichtweise von David Cameron und seinen nordeuropäischen Verbündeten ernst genommen. Sie fordert den ‚Reset‘ (auf Deutsch: Neustart) der EU-Politik. Als Begründung wird angegeben:

Eine EU ohne Großbritannien wäre eine Schneckenhaus-EU. Bieder, protektionistisch, selbstgefällig und ohne ein notwendiges häretisches Korrektiv. Es wäre eine EU zum Davonlaufen. 

Um der britischen Gefühlslage entgegenzukommen, muss die EU die Achtung, wenn nicht sogar die Wiederherstellung nationaler Rechte demonstrieren. Am schönsten wäre es, sie könnte gleichzeitig ihre Brüsseler Verwaltung reduzieren. Das wäre deutlich überzeugender als nur von der Verringerung von ‚Bürokratie‘ zu reden, also dem, was Edmund Stoiber als soziale Altersleistung versprochen hatte. An die Stelle von ‚mehr Europa‘ also mehr Bürokratie, träte der Abbau von Bevormundungen.

Die Kompetenz der EU-Kommission, und folglich ihre Chancen, liegen bei den Aufgaben, bei denen es Nationalstaaten heute schwer haben. Der Schutz der Umwelt und die Sicherung der Energieversorgung sind naheliegende Beispiele. Aber auch der Schutz europäischer Verleger gegen Google und Facebook, oder auch der Schutz kontinental-europäischer Bürger gegen amerikanische und chinesische staatliche Überwachung kann nur die EU wirkungsvoll betreiben. Einzelstaaten fühlen sich schnell überfordert. Wieweit diese Forderungen berechtigt sind, ist eine andere Frage, die zu diskutieren sich lohnt.

Die anstehenden Verhandlungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) bieten sich an, um die Rolle der EU-Kommission in neuem Licht erscheinen zu lassen. Nicht nur der Datenschutz kann hier vertraglich geregelt werden, auch die Behandlung gentechnisch veränderter Lebens- und Futtermittel. Die Hauptgefahr, die man bei einem engeren Schulterschluss zwischen EU und USA nicht außer Acht lassen darf, ist die vermehrte Angst, die sich in Osteuropa, Südamerika, Afrika und Asien einstellen kann bezüglich einer drohenden Hegemonie.

Die Einschaltung der EU-Kommission bzw. ihrer Außenvertreterin bei politischen Krisen war bisher alles andere als ein Erfolg. Sowohl in Afrika (Libyen, Mali, Zentralafrikanische Republik) wie in Osteuropa (Georgien, Ukraine) war ihre Rolle entweder marginal oder unglücklich. Hier ist überall entweder die USA in besonderer Weise gefordert, oder die früheren Kolonialmächte England und Frankreich spielen noch gerne eine Sonderrolle. Die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU rückt immer mehr in weite Ferne.

Mögliche Themen für das Parlament

Die Möglichkeiten des EU-Parlaments beschränken sich darauf, alle möglichen Themen zu diskutieren. Dazu gehören alle von der Kommission beschlossenen, eingeleiteten oder durchgeführten Aktionen. Auch von außerhalb der Kommission kommend, gibt es eine Vielzahl von Themen, die das Parlament beschäftigen kann und soll. Ich erwähne die Migrationsproblematik, die zwei unterschiedliche Dimensionen hat. Einmal geht es um die Wanderung innerhalb der EU, also von Rumänien und Bulgarien in die reichern Länder. Zum andern geht es um die Wanderung von außen in die EU, hauptsächlich über das Mittelmeer. Es gibt für beides keine leichten Antworten, umso wichtiger ist die Diskussion. Weitere sehr universelle Probleme sind die Zunahme der Verstädterung, die Versteppung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen, sowie die Verseuchung der Luft und der Böden mit der daraus resultierenden Gefährdung der Nahrungsmittel.

Ein spezielles Thema möchte ich hervorheben, dem sich das EU-Parlament unbedingt stellen muss. Ihm gehören jetzt über 100 Abgeordnete an, deren Ziel es ist, die dem Parlament zugrunde liegende gesetzliche Ordnung zu verändern. Andernorts gilt dergleichen als Subversion und Hochverrat. Die EU besitzt keine Möglichkeit, die von diesen Abgeordneten betriebenen subversiven Tätigkeiten zu verhindern. Insbesondere besteht keine Möglichkeit, ihnen das Mandat zu entziehen, wie dies Adolf Hitler mit den kommunistischen Abgeordneten nach dem Reichstagsbrand von 1933 tat. Es besteht nur die Möglichkeit, sich mit ihnen argumentativ auseinander zu setzen. Sie zu ignorieren reicht nicht. Man muss die Widersprüchlichkeit in ihren politischen Ansichten und in ihrem Verhalten thematisieren. Man muss klar machen, dass es marginale Ansichten sind, die nicht das Interesse der Öffentlichkeit verdienen. So muss man z.B. darauf hinweisen, welchen Dienst die UKIP der Wissenschaft ihres Landes erweist, indem sie effektiv die Vergabe von EU-Fördermitteln an britische Einrichtungen unterbinden will. Auch kann man eine Abstimmung herbeiführen, bei der Deutschlands Austritt aus der Euro-Zone zur Wahl steht, so wie dies von der AfD gefordert wird.

Mögliche Fortschritte des Projekts Europa

Von Friedrich Merz und Wolfgang Clement beeinflusst, hatte ich im August 2012 die Frage gestellt: Wieviel Europa darf es denn sein? Ich hatte die Diskussion nach elf Themengebieten strukturiert.
  • Außen- und Entwicklungspolitik
  • Verteidigung, Verbrechen und Migration
  • Währung, Finanzen und Steuern
  • Wirtschaft und Technologie
  • Energie und Klima
  • Landwirtschaft und Verbraucherschutz
  • Forschung und Wissenschaft
  • Industrie- und Verkehrspolitik
  • Sozial- und Gesellschaftspolitik
  • Gesundheits- und Drogenpolitik
  • Bildungs-, Sport- und Kulturpolitik
Es ist nicht davon auszugehen, dass die größeren EU-Länder wie Deutschland, England und Frankreich weitere wesentliche Verantwortungen auf diesen Gebieten an Brüssel abgeben möchten. Eine differenzierte Betrachtung kann daher nur weiterhelfen. Das Prinzip der Subsidiarität muss konsequent zur Anwendung kommen. Dabei ist Sensibilität für Stimmungslagen etwas, was Europa-Politiker noch mehr als andere benötigen.

9 Kommentare:

  1. Am 31.5.2014 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    Ich beobachte schon seit geraumer Zeit, dass Entscheidungen der Wähler weniger nach rationalen Argumenten getroffen werden, sondern es zählen vor allem Parolen, die emotionale Wirkungen entfalten. Eine der besten Parolen dieser Art war vermutlich „Mutti wird’s schon richten“. Die Parolen, mit denen der FN die Franzosen emotional erreicht, lauten:

    ‒ weder die Konservativen noch den Sozialisten kümmern sich um die Belange der Bürger
    ‒ die "Eliten" in Paris ignorieren die Nöte des Volkes
    ‒ die Regierung beugt sich den Spardiktaten aus Brüssel und Berlin
    ‒ die EU ist verantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang Frankreichs und die Arbeitslosigkeit
    ‒ Frankreich muss raus aus der Europäischen Union und den Euro abschaffen.

    Entscheidend für die Wahlerfolge des FN dürfte aber sein, dass Menschen in verarmenden Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Regierung, etablierte Parteien und erst recht Bürokraten in Brüssel Lösungen für gravierende persönliche Probleme und Ängste anbieten könnten. Der FN behauptet, Lösungen für die existierenden Probleme der Franzosen zu besitzen:

    ‒ Grenzkontrollen wieder einführen
    ‒ Zuzug von Migranten radikal verringern
    ‒ muslimische „Besatzung“ öffentlicher Plätze beenden
    ‒ die Bürger vor den Folgen der Globalisierung schützen

    Parteien, die sich von der EU-Administration in Brüssel abgrenzen oder gar den EU-Austritt fordern, haben nicht nur in Frankreich sondern in fast allen EU-Staaten bei der Wahl 2014 zum EU-Parlament enorme Stimmengewinne erzielt. Es ist schwierig, allgemeingültige Gründe dafür anzugeben. Die gesellschaftlichen Situationen in Frankreich, UK, Griechenland, Italien, Dänemark, Österreich oder Ungarn sind nicht vergleichbar.

    Wenn überhaupt, lässt sich aber feststellen, dass viele Menschen in EU-Staaten es leid sind, dass deren ökonomische Ängste und ̶ bei jungen Leuten ̶ der Mangel an Zukunftsperspektiven von etablierten Regierungen und Parteien nicht ernst genug genommen wurden und werden. Regierungsamtliche Parolen, dass alles in Ordnung sei, haben mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verloren. Im Gegenteil sind große Teile der Bevölkerung der Überzeugung, dass etablierte Politiker nicht die Interessen der Bürger sondern eher die Interessen der global agierenden Großunternehmen und der Finanzindustrie vertreten (müssen?). Auch Vertreter der Wirtschaftswissenschaften haben letztlich mit Kritik an der zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen die Öffentlichkeit erreicht (siehe Titelgeschichte des Spiegel, Heft 10/2014). Diese Situation gibt Parteien mit sogenannten rechts- als auch linksradikalen Orientierungen genügend Argumente und Gelegenheiten, Mitglieder und Wähler zu gewinnen.

    Jetzt ist es wichtig ein Augenmerk darauf zu halten, ob die Erfolge nationalistischer Parolen bei der Wahl zum EU-Parlament „nur“ Ausdruck einer vorübergehenden Proteststimmung sind, oder ob und wie nationalistisch orientierte Parteiprogramme zukünftige Regierungsprogramme beeinflussen.

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  2. In der heutigen Ausgabe (23/2014) des SPIEGEL werden natürlich die Geschehnisse seit der Wahl auch analysiert. Der SPIEGEL weiß zu berichten, dass es Jean-Claude Juncker war, der Martin Schulz zur Räson brachte, nicht dessen eigene Klugheit. Juncker habe Schulz am Montagmorgen per Handschlag einen ‚Pakt auf Kosten einer Dritter‘ angeboten, den dieser akzeptierte. Mit dieser Dritten sei Kanzlerin Merkel gemeint.gewesen. Wie auch immer.

    Man mag David Camerons Drohung, dass England die EU verlassen könnte, als Erpressungsversuch ansehen. Dennoch stelle ich allen deutschen Politikern drei Fragen, über die nachzudenken es sich lohnt:

    (1) Wieso ist ein Land wie England, das mit dem Austritt aus der EU drohen kann, eigentlich in der bestmöglichen aller Verhandlungspositionen? Wieso hat Deutschland diese Option nicht oder nicht mehr?

    (2) Was ist evtl. der Preis, den die EU dafür zu zahlen bereit ist, dass sie England, Holland, Schweden und Ungarn von einer Mehrheit der Länder überstimmen lässt? In welchem Größenverhältnis steht dieser Preis zu dem Bruch eines (bewusst vage gehaltenen) Wahlversprechens hinsichtlich der vom Parlament vorgeschlagenen Kandidaten.

    (3) Ist es sinnvoll, den Kompetenzverlust, den die EU-Kommission in Euro-Krise und Osteuropa-Politik erlitten hat, zu ignorieren, und zu hoffen, dass ein neuer Kommissionspräsident alles wieder richten wird?

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  3. Am 2.6.2014 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Kein Parteiprogramm ist besser bekannt als das der AfD. Man lese die Bücher von Sarrazin und schon liegt das Programm vor einem.

    Das Problem der herrschenden Klasse ist, dass sie sich nicht damit beschäftigt. „Nicht-lesende Verfassungsorgane“ spöttelte zur Sarrazin-Hochzeit Jürgen Kaube in der FAZ, und meinte die Verfassungsorgane vom damaligen Bundespräsidenten herunter über Frau Merkel und die Herrn Schäuble und de Maiziere bis zum letzten Kabinettsmitglied. Herr Gabriel wollte Sarrazin aus der SPD schmeißen. Und Frau Künast behauptete, den „Sarrazin“ auf dem Fluge zwischen Berlin und Hamburg gelesen zu haben. Herr Steinbrück nannte seine Bücher in einer Talkshow glatten Unsinn.

    An allen drei Büchern von ihm habe ich jeweils 14 Tage gesessen. So im Fluge geht das nämlich nicht. Sarrazin beansprucht wissenschaftliche Geltung, was man geflissentlich übersieht. Könnte es sein, dass man ihm nicht gewachsen ist und kneift? Was wir also brauchen sind lesende Verfassungsorgane. Mehr nicht.

    NB (Bertal Dresen): Ich halte übrigens Lucke, Le Pen, Farrage u. a. nicht für Europas Hauptproblem. Sie können sogar etwas Gutes bewirken. Dann nämlich, wenn sie Politiker aller Couleur zur Einsicht verhelfen, dass das Motto 'Mehr Europa' schlicht zu einfach ist. Es ist eine gedankliche Kapitulation, eine Ausrede von Faulenzern. Politiker müssen laufend darüber nachdenken, was sie nach oben wegdelegieren können oder sogar müssen, und was sie auf ihrer Ebene angehen müssen. Nachdenken ist allerdings noch schwieriger als Lesen. Gleichermaßen riskant ist es, zu handeln oder nicht zu handeln.

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  4. Noch am selben Tag schrieb Hartmut Wedekind:

    Wer die Szene doch mit einigermaßen wachem Verstand sieht, dem muss doch sofort das entsetzliche, unqualifizierte Lucke - oder AfD-Bashing auffallen. Ich habe die Passberg-Sendung "hart aber fair" am letzten Montag gesehen. Hier der AfD Vorsitzende Lucke und dort Michael Friedmann, Claudia Roth und Uwe Karsten Heye. Der CSU- Scharnagel fiel gar nicht auf. Dieses Dreigestirn, voran dieser entsetzliche Friedmann, fiel mit salafistischem Hass über den Lucke her, dass ich erschüttert war. Lucke musste sich pausenlos in dem Sinne wehren, dass er seine Hassgegner aufforderte, sein Parteiprogramm zu lesen, das sie offensichtlich nicht gelesen hatten. (Wie unserer Verfassungsorgane den Sarrazin nicht lesen oder nicht lesen können).

    Ich dachte: Da haben wir sie wieder, die nicht-lesenden "Organe". Im Sinne Volker Kauders: Beiseiteschieben und ignorieren (weil man sie offensichtlich nicht versteht). Wenn das so weiter geht, dann besteht die AfD bald zum großen Teil aus empörten Volkswirtschafts-Professoren, denen die Politik (inkl. Steinbrück) mental nicht gewachsen zu sein scheint. Man äußert sich nicht, und wenn man sich äußert, dann im Hass und unqualifiziert.

    Darauf schrieb ich (Bertal Dresen):

    Auch ich fand Lucke in der Sendung 'hart aber fair' in einer unfairen Situation. Er war der Prügelknabe. Ich hoffe nicht, dass alle VWL-Professoren so wie Lucke und Henkel denken. Sie sagen nur, wie man die 'faulen' Südländer loswerden kann. Sie sollten auch sagen, wie es danach weitergeht. Ihre Theorie deckt nur einen Teil des Problems ab. Daher Note 4-.

    Hartmut Wedekinds Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

    Der Weg geht nur, indem man zum Recht zurückfindet (Paul Kirchof). Die permanente Rechtsbrecherei (z.B. Maastricht) des Establishments ist kein Ausweg. Und die alles übertünchende EZB steht vor einem neuen Rechtsbruch noch im Juni. Höhnend heißt es heute in der Presse "Recht ist, was die Richter sagen".

    Dass wir permanent den Atem anhalten müssen, hat doch die AfD nicht verursacht. Fragen Sie doch mal die Verursacher, was sie außer Staatsbürgschaften des Steuerzahlers anders können und wie das von den Euro-Helden selbstangerichtete Südproblem systematisch zu lösen ist. Keine Antwort. Oder besser: man wurstelt.

    Fragen Sie auch mal das Establishment nach "Lampedusa" und was es hier zu tun gedenkt. Fragen Sie auch mal, was die irrsinnige EU-Erweiterung um die Restbestände der Sowjetunion soll. Das sind Extensionalisten. Herr Füle, der Kommissar. lässt grüßen. Schade aber, das Establishment macht Europa tatsächlich kaputt. Das Establishment bekommt von mir die Note 6. Auch das Juncker-Theater ist unerträglich. Das sind keine Europäer, das sind Kleingeister.

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  5. Wenn immer Dinge angeschnitten werden, die einige Leute für selbstverständlich halten, die es aber nicht sind, dann reizt es mich, sie zur Diskussion zu stellen:

    (a) zu den ‚nicht-lesenden‘ Verfassungsorganen: Als ich noch im Beruf tätig war, habe ich viel weniger gelesen als heute. Bei wichtigen Sachen suchte ich jemanden, der es für mich tat. Oft war es meine Frau, meistens ein Mitarbeiter. Falls mir das nicht reichte, schleppte ich das Dokument oft Wochen mit mir herum. Sehr oft waren es Dokumente, die ich nicht mit nach Hause nehmen konnte. Bücher von Universitätsprofessoren oder ehemaligen Politikern standen stets ganz am Ende meiner To-Do-Liste.

    (b) zu den VWL-Professoren und der AfD: Würden alle VWL-Professoren sich in der AfD versammeln, wäre das gar nicht so schlecht. Einerseits würde die Partei sich sehr schnell spalten oder unter 1% schrumpfen. Anderseits wäre klarer, was von ihren Ideen zu halten ist. VWL-Professoren lieben es, Theorien in die Welt zu setzen, deren Richtigkeit niemand überprüfen kann. Entweder sagen sie, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, hätte man sich an ihre Theorie gehalten, oder sie definieren die Theorie so, dass die notwendigen Anfangsbedingungen nie eintreten. Für Nebenbedingungen ist erst recht kein Platz.

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  6. Am 3.6.2014 schrieb Hartmut Wedekind:

    Der Prozess der Verständigung zwischen dem aufgebrachten Bürger und dem Establishment beginnt, indem das Establishment reflektiert und seine enormen Fehler eingesteht. Dann können wir weiter sehen, konstruktiv zusammen, wie wir aus der Misere herauskommen. Da das Establishment aber immer Recht hat, und sich im Rechthaben gegenseitig anfeindet (man nennt das oberflächlich auch Demokratie), geht es um Gerechtigkeit (iustitia) und nicht um Erbarmen (misericordia).

    (Ausführlich werden diese Begriffe im Beitrag zur ‚Organisations-Anthropologie‘ am 5.1.2013 in diesem Blog behandelt)

    Ich bin also gerecht und nicht barmherzig und zeige auf Maastricht (Sarrazin, Kirchhoff, und viele andere tun das auch). Das Establishment, nicht der aufgebrachte Bürger, muss den ersten Schritt tun. Sie verlangen das Umgekehrte von mir, indem sie mich zum Verzeihen auffordern. Und was dann, wenn ich verzeihe? Dann geht die Chose so weiter. Verzeihen ohne Reflexion ist Unsinn, d.h. richtungslos. Das könnte in jedem Katechismus stehen. Eigentlich trivial.

    NB (Bertal Dresen): Mir ist nicht in Erinnerung, irgendwo den Begriff ‚Verzeihen‘ benutzt zu haben. Wenn ich darum werbe, auch andere Meinungen als die eigene gelten zu lassen, betrachte ich das nicht als Verzeihen.

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  7. Am 3.6.2014 schrieb Peter Hiemann:

    Es ist mein Eindruck, dass die meisten VWL-Professoren wenig dazu beitragen, komplexe volkswirtschaftliche Zusammenhänge zu analysieren, darzustellen oder gar zu modellieren. Deren Analysen und Vorschläge sind mehr oder weniger Beiträge zu betriebswirtschaftlichen und unternehmerischen Themen .In diesem Sinn darf sich die Mehrzahl der VWLer getrost zum Teil des Establishments rechnen, das eigentlich zugeben muss, dass es selbst nicht weiß, wie politische und speziell internationale Beziehungen und Abhängigkeiten einzuschätzen sind.

    Ich erwarte von Lucke und Henkel eine tiefgreifende Analyse und konstruktive Vorschläge, wie globalen Finanzkrisen und speziell der Eurokrise beizukommen wäre. Diese Vorschläge dürfen sich nicht darauf beschränken, Staaten wie gehabt Freiheitsgrade von Abwerten und Aufwerten nationaler Währungen zu ermöglichen. Schon am Unterschied der ökonomischen Umfelder in UK und Deutschland wird deutlich, dass AfDs (und natürlich auch Sarrazins) Vorstellungen viel zu kurz greifen. UK hat alle Freiheitsgrade, den Wert des Pfundes zu "manipulieren", auch auf Grund der Dominanz der Finanzindustrie in London.

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  8. Noch am 3.6.2014 schrieb Hartmut Wedekind:

    „Wir, das Establishment, haben den Karren in den Dreck gezogen. Und ihr, die Kritiker, müsst ihn (mit uns im Dreck) wieder herausziehen. Aber bitte nur mit Vorschlägen, die uns genehm sind“.

    So geht’s ja nicht. Das ist selbst nicht konstruktiv. Das ist die Hilflosigkeit eines Kindes, das etwas verbockt hat. Bitte schön. Her mit den Erkenntnissen. Bloß kann es keine Erkenntnisse geben, wenn die gemachten Freveltaten nicht benannt werden.

    Wir springen zurück und beginnen also den Disput mit dem Aufzählen der Fehler, damit überhaupt klar wird, was ein Fehler war und noch ist. Beim Fehlerbenennen darf es keine Unklarheiten geben. Sonst kommt ein Europa-Schwärmer jenseits der Vernunft noch auf den Gedanken, die Einführung des Euro als Meisterleistung zu preisen. Aus Fehlern lernt man. Nur so geht es und nicht anders. Eine alte Weisheit.

    NB (Bertal Dresen): Nur zur Erinnerung: Establishment = beinahe alle heutigen und früheren Politiker von CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne (und ähnlichen Parteien in andern EU-Ländern); Kritiker = AfD und Die Linke (die frühere PDS).

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  9. Am 4.6.2014 schrieb Hartmut Wedekind:

    In der praktischen Fehlerbeseitigung kennt man je nach Fehlerart zwei Fälle: (1) Backward Recovery, also ein Zurücksetzen des fehlerhaften Vorgangs und eventueller Neustart. (2) Forward Recovery oder Reparaturmaßnahmen bis ein fehlerfreier Zustand erreicht ist.

    Nach Aufstellung einer Fehlerliste muss geprüft werde, welcher Fehler nach (1) und welcher nach (2) beseitigt wird. Das Establishment behauptet, es gäbe im Wesentlichen nur die Möglichkeit (2) und die in extenso, bis in alle Ewigkeit. Oder kann sich jemand z.B. vorstellen, dass die Troika als Reparaturaufsichts-Kolonne in Athen jemals wieder abzieht? “Eternal Forward Recovery“(EFR) ist das Losungswort des Establishments. Es ist leicht einzusehen, dass nicht alle dem zustimmen, sondern auch die Möglichkeit (1) in Erwägung ziehen, weil man das im Allgemeinen in der Fehlerbeseitigung so macht. So bescheiden ist das „aussätzige“ Non-Establishment in meiner Person.

    PS: Die Linken gehören nicht zum Establishment. Nur die gehören dazu, die am Bau beteiligt waren. Die Linken in ihrem Corpus waren in den entscheidenden Phasen des Baus noch Zuschauer in der DDR.

    PPS: Dann und wann in kleinen Fällen hat man auch schon Möglichkeit (1) angewandt. Man denke an die Gurken und ihre Krümmung. Die Gurken sind weg, wie man mir sagte. Alle Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips gehören mit und ohne Neustart umgehend nach (1) behandelt. Das müsste eigentlich unproblematisch sein, wenn die Vernunft, d.h. die Transsubjektivität waltet, wovon man leider nicht ausgehen kann.

    NB (Bertal Dresen): Eternal Forward Recovery (EFR) ist quasi eine Umschreibung für Politik generell, ja das ganze Leben. Restarts sind längst nicht Jedermanns Sache. Man muss nämlich nicht nur alle alten Auftragsdaten und Produktsmaterialen noch haben. Man muss außerdem während der Zeit, die der Restart selbst benötigt, parallel weiter produzieren. Schließlich muss man dafür sorgen, dass das zuviel erzeugte auch eingesammelt und entsorgt wird.

    Der Euro wurde übrigens bei uns aufgrund einer namentlichen Abstimmung des Deutschen Bundestags am 23.4.1998 eingeführt. Es gab dabei 5 Enthaltungen und 35 Nein-Stimmen. Unter den Nein-Stimmen waren alle 27 Stimmen der PDS.

    So sehr ich dafür bin, dass Bernd Lucke fair behandelt wird, werde ich trotzdem in den nächsten Tagen keine weitere einseitige Werbung für die Positionen der AfD in diesem Blog veröffentlichen.

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