Dienstag, 10. Februar 2015

Anthropologie und Ethnologie, zwei Wissenschaften ganz besonderer Art

Die Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen. Sie betrachtet den Menschen gemäß der Evolutionstheorie von Charles Darwin als biologisches Wesen. Eines ihrer Teilgebiete ist die Kulturanthropologie. Im Gegensatz zu den USA wird im deutschen Sprachraum dafür meistens der Begriff Ethnologie (Völkerkunde) verwendet. Die Ethnologie erforscht und vergleicht (laut Wikipedia)

die Kulturen der weltweit rund 1300 ethnischen Gruppen und indigenen Völker, ihre Wirtschaftsweisen, soziale und politische Organisation, Religionen, Rechtsvorstellungen, medizinischen Kenntnisse und gesundheitsbezogenen Praktiken, und ihre Musiken.

Das übliche Verfahren zur Datenerhebung ist die ethnologische Feldforschung. Oft verbringen Ethnologen Jahrzehnte in ihrem Untersuchungsgebiet und suchen dabei die Akzeptanz durch ihre Zielgruppe.

Der Franzose Claude Lévi-Strauss (1908-2009) hatte 1955 mit seinen Buch ‚Traurige Tropen‘ (frz. Tristes Tropiques) nicht nur mir die Augen geöffnet bezüglich des Schicksals der im Urwald vegetierenden primitiven Völkerschaften. Er hatte zwischen 1935 und 1939 mehrere ethnographische Forschungsreisen in den Mato Grosso und ins Amazonasgebiet unternommen. Der etwas ungewöhnliche Buchtitel sollte zum Ausdruck bringen, dass die Vorstellung, dass primitive Völker alle als edle Wilde im Paradies leben, nicht ganz stimmt. Dennoch, oder gerade deshalb, gilt Lévy-Strauss noch heute als der unbestrittene Altmeister des Fachgebiets. Da er über 100 Jahre alt wurde, ist der Titel angebracht.

Bei Arte gab es letzte Woche einen Film, in dem am Beispiel der Yanomami gezeigt wurde, welche Folgen die ethnologische Forschung aus Sicht der ‚Erforschten‘ haben kann. Die Yanomami sind  ein indianisches Volk am Oberlauf des Orinoco, im Süden Venezuelas. Die Arbeit von drei Forschern will ich herausgreifen.

Der erste ist der Franzose Jacques Lizot, ein Schüler von Lévy-Strauss. Er lebte von 1968 bis 1992 unter den Yanomami und verfolgte das Ziel, die Sprache zu erforschen und ein Lexikon zwischen der Eingeborenensprache und Französisch zu erstellen. Er erkaufte sich das Wohlwollen seiner Partner durch eine Unzahl von Geschenken, darunter Hängematten, Äxte, Macheten, Gewehre und Tonbandgeräte. Ihm wird vorgeworfen, sich nicht nur der Pädophilie schuldig gemacht zu haben, sondern auch junge Frauen zur Prostitution verleitet zu haben.

Dem Amerikaner Kenneth Good, der mehrere Jahre unter den Yanomami lebte, wurde 1978 ein etwa 12-jähriges Mädchen zur Frau gegeben. Er hatte drei Kinder mit ihr. Als er später zurück in die USA ging, nahm er Frau und Kinder mit. Dort lebten sie mehrere Jahre, bevor die Frau zurück zu ihrem Stamm in den Urwald übersiedelte. Sie wollte kein Leben, getrennt von ihrer Großfamilie und in Zimmern eingepfercht, verbringen. Zuerst ging nur die Töchter mit. Später folgte auch einer der beiden Söhne.

Sehr umstritten ist die Arbeit von Napoleon Chagnon (Jahrgang 1938) von der University of California in Santa Barbara. Auch er lebte mehrere Jahre bei dem Stamm. Zwischen 1966 und 2013 schrieb er sieben Bücher über die Yanomani. Einige erhielten eine in die Millionen gehende Auflage. In den Buch ‚Yanomamö: Das kriegerische Volk‘ (engl. The Fierce People) von 1968 beschrieb er den Stamm als listig, aggressiv und kriegerisch. Es gäbe immer wieder Auseinandersetzungen mit Nachbardörfern. Oft seien Frauen der Grund. Die Mehrzahl aller Männer sterbe eines gewaltsamen Todes. Durch penible Statistiken wies er nach, dass 40% aller erwachsenen Männer mindestens einen Mord oder Totschlag zu verantworten hätten, und dass dieser Teil der Männer, gegenüber dem Durchschnitt,  mehr Frauen und die dreifache Anzahl von Kindern besäße.

Die Ärzte und Missionare, die bei den Yanomami gearbeitet haben, lehnten Chagnons Schilderungen als völlig unzutreffend ab. Besonders kritisiert wird seine Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie und den Atombehörden, Man begann bei den isoliert lebenden Yanomami Blutproben entnehmen, um die Befunde mit denen japanischer Hiroshima-Opfer zu vergleichen. Als nach seinem letzten Besuch eine Masern-Epidemie ausbrach und viele Stammesmitglieder starben, gab man Chagnon und seinen Begleitern die Schuld. Die Regierung Venezuelas erteilte ihm inzwischen ein Einreiseverbot.

Anthropologen, die mit indianischen Eingeborenen in Südamerika arbeiten, werfen sich gegenseitig vor mit sehr ‚dünnen‘ Daten zu arbeiten. Sie würden ihre Hypothesen als bewiesen ansehen, sobald sie zwei oder drei Fälle fänden, die ähnliches Verhalten zeigten. Ob die Kontaktpersonen ehrlich oder repräsentativ seien, würde nicht nachgeprüft. Ein französischer Kommunist erwarte, dass der Gemeinschaftsbesitz als Urform allen Menschsein hervorstechen müsste. Der Amerikaner, der eher zum Kapitalismus neigt, erkennt alsbald, dass das egoistische Streben einzelner vorherrscht. Andere thematisieren vor allem jede Form von Homosexualität, die sie vorfinden. Jeder gehe von einem bestimmten Paradigma aus und suche nur die Daten, die es bestätigten. Man kann durchaus fragen, ob Anthropologen die einzigen Wissenschaftler sind, die manchmal diesen Fehler machen.

1 Kommentar:

  1. Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Der Mensch als biologisches Wesen oder der Mensch im Rahmen einer Völkerkunde hat mich nie sonderlich interessiert. Mir lag immer mehr an der Philosophischen Anthropologie (http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische_Anthropologie) , die letztendlich von Kant begründet wurde. Er schrieb eine „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1797). Ausgangspunkt war sein berühmte vierte Frage „Was ist der Mensch?“.

    Bei den gewaltigen Umwälzungen, denen wir ausgesetzt sind, stellt sich nicht nur die alte Frage „Der biologische Mensch und sein Volk“, sondern „Der Mensch in seiner Organisation“, die sich drastisch wandelt. Es gibt so etwas wie „Organisations- Anthropologie“. Wie erfolgreich die betrieben wird, bleibt zu debattieren

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