Dienstag, 21. April 2015

Harry Sneed über sein Wirken als engagierter Software-Tester und Software-Sanierer

Harry Marsh Sneed (Jahrgang 1940) ist seit Jahrzehnten mit Software Engineering und Reengineering, mit Software-Qualitätssicherung und speziell Software-Testen und Testautomatisierung betraut und einer der führenden Experten auf dem Gebiet. Dies nicht zuletzt auch aufgrund seiner Autoren- und Koautorenschaft an 22 einschlägigen Fachbüchern und zahllosen Fachartikeln und -vorträgen über vier Jahrzehnte. Sneed erwarb 1969 einen MPA-Grad (Master of Public Administration and Information Science) an der University of Maryland in den USA. Nach Tätigkeiten im US Navy Department und in den 1970ern über mehrere Jahre u.a. bei Siemens in München, auch schon zu Software-Qualitätssicherung, wurde er Firmengründer und Geschäftsführer sowie Laborleiter in Budapest. Insb. ab den 1980er Jahren wurde er damit hochpräsent in der fachlichen Softwarequalitätssicherungsszene wissenschaftlich wie praktisch.

Harry Sneed verlagerte den Mittelpunkt seiner Aktivitäten ab den 1990ern wieder mehr nach Schweiz, Deutschland, Österreich zurück und schloss sich schließlich dem Wiener Unternehmen ANECON an, weiterhin zu Software-Qualitätssicherung. Er ist darüber hinaus seit Jahren als Lehrbeauftragter und Dozent an verschiedenen Universitäten tätig, so etwa an der Universität Regensburg. Zu den vielen Preisen und Auszeichnungen, die an ihn verliehen wurden, gehören der Deutsche Preis für Softwarequalität 2011 (für sein Lebenswerk), der International Software Testing Excellence Award von der ISTQB 2013, die GI-Fellowship 2005, die IEEE-Auszeichnung für bahnbrechende Leistungen im Bereich  Software-Reengineering 1996 und der Stevens Award für seine Beiträge auf dem Gebiet der Softwarewartung im Jahre 2009.



Klaus Küspert (KK): Herr Sneed, Sie sind in der Informatikwelt nun seit etwa 45 Jahren engagiert und mit prägend vor allem im Bereich Software-Qualitäts­siche­rung. Können Sie uns zu Beginn bitte ein paar Sätze zu Ihren entsprechenden Anfängen sagen, wie kamen Sie also mit der Informatik („Computer Science“ oder „Information Systems“ in den USA) in Berührung: War es schon im Studium in Teilen oder unmittelbar danach?

Harry Sneed (HS): Ich hatte nie vor, in der Informatik zu arbeiten. Ich kam 1965 aus dem Militärdienst und wollte mein Studium beenden. Mein Ziel war, Beamter zu werden. Deshalb das Studium in Public Administration. Information Science kam später hinzu. Nach meinem Bachelor-Abschluss an der Universität Maryland im Jahre 1967 habe ich mich beim US Civil Service beworben. Die einzige offene Stelle war als Programmierer im US Navy Department. Ich musste, um diese Stelle zu bekommen, im Graduate Studium das Fach Information Sciences neben dem Fach Public Administration belegen. Ich wurde also praktisch gezwungen, Wirtschaftsinformatik zu studieren. Dafür hat das Navy Department mein Studium unterstützt. Ich habe in der Woche drei Tage im Navy Research Center gearbeitet und zwei Tage an der Universität Maryland studiert. Fortran-Programmieren habe ich schnell gelernt. Mein Auftraggeber war ein ehemaliger deutscher U-Boot-Wissenschaftler, der nach dem Krieg in Amerika sein Auskommen fand. Wir haben gut zusammengearbeitet. Er hat die Vorgaben gemacht und ich habe sie in Fortran-Code umgesetzt. Es ging um Flottenverteidigungssysteme. Das hat mich interessiert. Meine Fortran-Programme sind über die Zeit immer besser geworden. Der deutsche Wissenschaftler hatte mit mir viel Geduld. Nebenbei habe ich Programmierkurse im Navy Department besucht und kam so immer mehr ins Fach.

KK: Wie kam es dann für Sie zum Wechsel aus den USA nach Deutschland und schließlich zu Ihrer Beschäftigung bei Siemens in München (und war das gegen Ende dann gerade schon zu Neuperlach-Zeiten („Datasibirsk“) oder alles noch davor)?

HS: Ich hatte eine deutsche Frau. Ich hatte sie während meiner Soldatenzeit in Deutschland kennen gelernt. Sie ist mit mir nach Amerika gekommen. Wir hatten in Amerika am Anfang eine schwere Zeit. Ich habe neben meinem Studium auf dem Bau gearbeitet. Wir mussten sehr bescheiden leben und konnten uns keine Krankenversicherung leisten. Die Sicherheit und den Lebensstandard in Deutschland hat sie vermisst. Also wollte sie schon sehr bald nach Deutschland zurück. Nachdem ich die Stelle beim US Navy Department hatte, ging es uns besser, aber sie hatte schon den Beschluss gefasst, zurückzukehren. Obwohl ich schon eine Promotionsstelle an der Uni Maryland hatte, habe ich ihr versprochen, ich würde mich um eine Stelle in Deutschland kümmern. 1969 hat sie für mich eine Stellensuche als Systemanalytiker in einer Informatikzeitschrift platziert und ich bekam darauf 33 Angebote. Sie ist danach vorausgegangen und hat die Termine organisiert. Ein Jahr später bin ich ihr nachgefolgt.

Von den 33 Angeboten habe ich mich für die Hochschulinformationssystem GmbH (HIS) in Hannover entschieden. Ich wollte weiterhin nahe an den Hochschulen sein. Ich hatte immer noch die Absicht, zu promovieren, aber es sollte nicht dazu kommen. Zuerst habe ich an mehreren deutschen Hochschulen Projekte unter namhaften deutschen Professoren durchgeführt: Prof. Mertens in Erlangen – Studenteninformationssystem, Prof. Krüger in Karlsruhe – Raumverwaltungssystem und Prof. Grochla in Köln – Finanzverwaltungssystem. In dieser Zeit habe ich mein erstes deutsches Buch „Informationssysteme für die Hochschulverwaltung“ im de Gruyter Verlag geschrieben. Gleichzeitig habe ich meine ersten deutschsprachigen Fachartikel verfasst, in der Informatikzeitschrift und in Online – Zeitschrift für Datenverarbeitung. Dann hat Siemens Hannover mir angeboten, zu ihnen zu kommen. Sie hatten einen Auftrag in Göttingen, die Stadtverwaltung zu automatisieren. Das Projekt hat mich gereizt und ich bin hingegangen. Das Projekt war ein großer Erfolg und ich wurde von der Stadt geehrt. Kurz danach hat Siemens mir eine Stelle in der Zentrale in München angeboten. Ich habe sie angenommen und bin mit meiner Frau nach München gezogen. Damals war die Siemens-IT noch in Schwabing. Dort habe ich im Datenbankbereich das Projekt für die Query-Sprache geleitet.   

KK: Im Jahre 1968 war ja auf der berühmten Garmisch-Fachtagung jener Zeitpunkt gewesen, wo erstmals explizit und sozusagen nachhaltig von der „Softwarekrise“ gesprochen wurde. Würden Sie sagen, dass jene Siemens-Aktivitäten der 1970er, deren wesentlicher Teil Sie ja mit waren, darauf zurückzuführen sind, also die nun stärkere Betonung von Software-Qualität und deren Sicherstellung?

HS: Ich habe die Berichte über die Garmisch-Tagung mit großem Interesse verfolgt. Schon 1971 bin ich von HIS aus auf die IFIP-Konferenz in Ljubljana gegangen. Dort habe ich einige der Teilnehmer der Garmischer Konferenz persönlich kennengelernt. Das hat mich sehr inspiriert. Als ich 1974 zu Siemens nach München kam, war die Idee des Software-Engineering dort schon im Aufblühen begriffen. Ich habe mit meinen Fachartikeln und DV-Kursen beigetragen. Ich habe zu dieser Zeit auch ein Buch über strukturierte Programmierung herausgebracht. Ich muss sagen, Siemens hat mich in meiner Arbeit sehr unterstützt. Schon als Projektleiter für Siemens habe ich begonnen, mich mit Testen zu befassen, als ich merkte, dass 50% des Projektaufwands durch den Test beansprucht wurden. Mein erstes Seminar über Softwaretest habe ich bei Siemens 1976 gehalten. Daraufhin hat der Leiter des ITS-Projekts (Integriertes Transport System), Dieter Höft, mich ersucht, den Test im Projekt zu übernehmen. Es sollte in dem Projekt einen Qualitätsmanager und einen Test-Teamleiter geben. Es gab aber leider keine Tester. Niemand wollte diesen Job machen. Also bin ich auf Ungarn ausgewichen. Das ungarische Institut SZKI hatte damals schon mit Siemens zusammengearbeitet – Personal gegen Rechner. Gleichzeitig traf ich auf einer Testkonferenz in London den Vertreter eines anderen ungarischen Instituts SZAMOK. Auch dieses Institut hat Tester angeboten. Ich habe nicht lange gezögert und habe zusammen mit dem amerikanischen Testexperten Dr. Ed Miller das Siemens-Testlabor in Budapest aufgebaut.    

KK: Mit jenen Budapest-Aktivitäten waren Sie ja Pionier gewissermaßen, zu einer Zeit, als die Öffnung und Durchlässigkeit zwischen Ost und West noch mehr als 10 Jahre entfernt (und nicht absehbar) waren. Könnten Sie zu jener sicher extrem spannenden Zeitperiode bitte noch etwas mehr sagen und Eindrücke vermitteln?

HS: Ich bin nach Budapest gegangen, weil sie dort einen Siemens-Rechner und gut ausgebildetes Personal mit deutschen bzw. englischen Sprachkenntnissen hatten. Die Institutsleiter und das Außenhandelsministerium waren auch bereit, das Projekt zu unterstützen. Wir konnten uns auf einen Festpreis für Testleistungen einigen – 75 DM pro dokumentiertem Testfall und 150 DM pro nachgewiesenem Fehler, wobei wir eine Testüberdeckung von mindestens 85% Zweigüberdeckung erreichen mussten. Für dieses Projekt habe ich das erste deutsche Testwerkzeug – Prüfstand – aufgrund des ersten amerikanischen Testwerkzeuges RXVP – Research Evaluation and Verification Package – entwickelt und im ITS-Projekt eingesetzt. Dr. Miller hatte das RXVP-Projekt geleitet und uns in Ungarn beraten. Ich bin jede Woche mit einem Magnetband voller neuer Softwaremodule nach Budapest geflogen. Dort wurden die Module zunächst analysiert und nachdokumentiert. Die Testfälle wurden aus dem Programmodell abgeleitet, ein Testfall für jeden Pfad durch den Kontrollflussgraph. In dieser Hinsicht war ich wirklich ein Pionier: das erste kommerzielle Testlabor, das erste Test-Outsourcing-Projekt, der erste modellbasierte Test und das erste Testautomatisierungsprojekt in Deutschland. Natürlich gab es Vorgänger in den USA, nämlich im Ballistic-Missile-Defense-Projekt (BMD), wo auch modellbasiert und automatisiert getestet wurde. Das BMD-Projekt mit RNets und RXVP war unser großes Vorbild.

Dies also war der Anfang meiner Zusammenarbeit mit den ungarischen Recheninstituten. Natürlich wurde ich vom BND überwacht und auf der ungarischen Seite musste ich mich ein paar Mal vor der Sicherheitspolizei verantworten. Nach der Veröffentlichung eines umstrittenen Artikels über das Testprojekt wurde ich kurzzeitig in Gewahrsam genommen. Das hat mich nicht aufgehalten. Von der deutschen Seite bekam ich auch Unterstützung, nämlich vom Bundespräsidenten Weizsäcker, der sich in einem Brief bei mir bedankte für meine Bemühungen, die Helsinki-Vereinbarungen umzusetzen. Es gab natürlich Firmen wie MBB, die die Zusammenarbeit mit uns verweigerten, aber es gab genug andere, wie Bertelsmann, BMW und Thyssen, die uns ihre volle Unterstützung anboten. Wir haben über viele Jahre Räume und Rechenkapazität in Gütersloh gehabt, wo wir unsere Werkzeuge ungehindert weiter entwickeln konnten.  

KK: Um schon mal die Brücke etwas zu den Hochschulen zu schlagen: Ich nehme an, dass sie seit den 1970ern dann auch schon mehr und mehr mit Informatik-Hochschulabsolventen zu tun hatten, die also den damals neuen und sich rapide ausbreitenden Informatikstudiengang komplett durchlaufen hatten – sei es in Ungarn, sei es im Westen Europas. Wie waren Ihre Erfahrungen: Brachten diese Absolventen von den Universitäten zumindest etwas „awareness“ für Software-Qualitätssicherung mit oder vielleicht oft nicht mal das?

HS: Ich habe mit Informatik-Hochschulabsolventen in verschiedenen europäischen Ländern zu tun gehabt, vor allem in Ungarn, Deutschland, Österreich und in der Schweiz. In den 1970er Jahren war der Stand der Informatikausbildung auf einem bescheidenen Niveau. In Ungarn gab es sehr gute Mathematiker und Leute mit guten Fremdsprachenkenntnissen. Auch Mathematik ist eine Sprache, eine Sprache der Zahlen. Informatik ist eigentlich eine Sprachwissenschaft. Man hat mit vielen Sprachen zu tun: Spezifikationssprachen, Entwurfssprachen, Programmiersprachen, Testsprachen und mittlerweile auch mit Prozessmodellierungssprachen. Da haben Kontinentaleuropäer einen gewissen Vorteil gegenüber Amerikanern und Engländern, die in der Regel nur ihre Muttersprache beherrschen. Die meisten Kontinentaleuropäer sind gezwungen, sich mit vielen Sprachen auseinander zu setzen. Das macht sie für die Informatik besser geeignet. Dazu kommt das inzwischen solide Grundstudium in Informatik. Dieses ist zwar etwas theorielastig und die Studenten müssen ihre praktischen Kenntnisse erst im Beruf erwerben, aber es kann nur so sein. Welche Praxis soll man denn an der Uni lehren, es gibt nicht die Praxis, sondern viele Formen der Praxis und sie wechseln alle fünf Jahre. Demzufolge bleibt eine gute theoretische Ausbildung die einzige und – mit einigen praktischen Übungen in irgendeiner Praxis – die beste Lösung.

In der Theorie sollten Studenten lernen, dass eine 100% korrekte Lösung nicht einmal theoretisch erreichbar ist und praktisch schon gar nicht. Ein imperfektes Wesen, was der Mensch nun einmal ist, kann keine perfekten Artefakte konstruieren. In anderen Lebensbereichen kommen wir mit den vielen kleinen Inkonsistenzen und Unebenheiten gut zurecht. In der Softwaretechnologie werden wir dafür unerbittlich bestraft. Der Test ist notwendig, um wenigstens die krassesten Inkonsistenzen und Unebenheiten zu entfernen, ehe der Benutzer darauf kommt. Da wir jedoch nicht wissen können, wie viele solche Mängel eine Software enthält, tappen wir im Dunkeln. Wir müssten eine potentiell unendliche Anzahl Mängel in einer endlichen Zeit aufdecken. Da wir dies nicht schaffen können, sind Entwickler und Tester permanent frustriert. Die meisten jungen Informatiker überschätzen sich selbst maßlos und unterschätzen die Schwierigkeiten der Softwareentwicklung um einige Potenzen. Die Uni sollte ihnen mehr Bescheidenheit beibringen, damit sie ihre Grenzen früher erkennen. Dann würden nicht etliche nach wenigen Jahren den Entwicklerberuf aus Frustration an den Nagel hängen.

KK: Sie hatten nach den Budapest-Jahren verschiedene berufliche Stationen in Deutschland und der Schweiz, bevor Sie sich ANECON anschlossen, wo Sie dann über Jahre tätig waren. Sagen Sie unseren Lesern des Interviewtexts bitte etwas zu ANECON und zu Ihren Tätigkeiten dort?

HS: Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus war mir die Basis meiner Existenz genommen. Die ungarischen Institute, in denen ich inzwischen ein Zuhause gefunden hatte, wurden über Nacht abgewickelt. Viele meiner Mitarbeiter sind ins Ausland gegangen. Ich musste mein Zimmer im Burgviertel von Budapest gegen eine Gartenlaube in der Vorstadt tauschen. Ich fühlte mich als Verlierer der Geschichte, aber das Leben ging irgendwie weiter. Es kam ein Anruf aus Zürich.

Die UBS (eine bekannte Schweizer Bank) suchte einen Auftragnehmer für ein Migrationsprojekt. Mit dem verbliebenen Rest meiner Mitarbeiter aus den beiden zusammengebrochenen Instituten bin ich nach Zürich gezogen. Dort in der UBS haben wir ein Software-Reengineering-Kompetenzzentrum eingerichtet. Es gab jede Menge an Reengineering- und Migrationsprojekten. Mit dem Test und der Qualitätssicherung war es für mich vorläufig vorbei. Mein beruflicher Schwerpunkt hatte sich verlagert. Die Jahre in Zürich waren mein wissenschaftlicher Höhepunkt. In dieser Zeit bin ich international bekannt geworden und nicht für Test und Qualitätssicherung, sondern für Reverse- und Reengineering. Ich bekam eine Auszeichnung von der IEEE und durfte meinem alten Arbeitgeber, dem US-Verteidigungsministerium, als Berater für ihre Software-Reengineering-Prozesse dienen. Für meinen Beitrag zum Gebiet der Softwarewartung bekam ich später den internationalen Stevens Award. Leider ging die schöne Zeit in der Schweiz zu Ende, als die Fremdenpolizei sich weigerte, unsere Arbeitsbewilligungen zu verlängern. Das hatte damit zu tun, dass der alte IT-Leiter, der uns angefordert hatte, abtreten musste.

Also habe ich versucht, wieder in Deutschland Fuß zu fassen. Testprojekte habe ich keine mehr bekommen, auch keine QS-Beratungsaufträge, nur ein paar Migrations- bzw. Kapselungsprojekte hier und dort: im FISCUS-Projekt, für die deutschen Sparkassen in Münster und Hannover, für die bayerische Landesversicherung und die Kommunalverwaltung Bayerns. Meistens handelte es sich um alte Assemblersysteme, die im Vorfeld des Jahrtausendwechsels umgestellt werden mussten. Als es solche Projekte nicht mehr gab, war ich gezwungen, wieder ins Ausland zu gehen, als Tester und Qualitätsprüfer für ein großes Bankenprojekt in Wien. Dort habe ich für die Firma SDS Testwerkzeuge entwickelt und Statistiken über die Qualität, Quantität und Komplexität der Software geführt. Meine alten Werkzeuge habe ich auf C++ und Java umgestellt. Bei der SDS habe ich zahlreiche Kostenschätzungen und Produktivitätsanalysen durchgeführt.

Dabei bin ich das eine und andere Mal zu weit gegangen und habe gegen die österreichische Arbeitsverfassung verstoßen. Als es später zu einer Entlassungswelle kam, stand mein Name ganz oben auf der Liste des Betriebsrats. Ich musste wieder einen neuen Arbeitgeber finden. Das hat wieder eine Weile gedauert. Ich habe überall in Deutschland versucht, Anschluss zu finden, aber ich musste erkennen, dass meine Zeit in Deutschland zu Ende war. Auf einer Metrikkonferenz in Magdeburg habe ich eine junge Dame von der Firma ANECON kennengelernt. Sie wollte mir helfen, bei ANECON als Testexperte einzusteigen. Sie hat Wort gehalten und ich bin, wie das Schicksal es so will, wieder in Wien gelandet.

Bei ANECON habe ich mich an vielen Testprojekten beteiligt, unter anderem als Test-Teamleiter für die österreichische Wirtschaftskammer, als Testanalytiker für den Freistaat Sachsen in Dresden, als Lastenheftprüfer und Ghost Writer für das Bundesamt für Wasserbau und Binnenschifffahrt in Ilmenau und als Testwerkzeugentwickler für eine Bank in Wien. Ich habe in meiner Zeit bei der ANECON mindestens acht Messprojekte durchgeführt. Das Größte war für ein Versicherungsunternehmen in Stuttgart, wo ich mit meinen letzten beiden ungarischen Mitarbeitern 70 Millionen Codezeilen in 13 verschiedenen Sprachen vermessen habe.

Mein erster Kunde für die ANECON war eine Telekommunikationsfirma, bei der ich Fehler in der Kommunikation zwischen Frontend und Backend gesucht habe. Daten sind bei der Datenübertragung verloren gegangen. Es hat lange gedauert, bis ich darauf gekommen bin, dass das Produkt MQ Series die Nachrichten über 32 KB einfach kommentarlos abschnitt. Sie waren zu Recht nicht besonders glücklich mit meiner Leistung. Zehn Jahre später habe ich bei der gleichen Firma einen Grundkurs über Testprozesse gehalten. Dabei soll ich rassistische Bemerkungen habe fallen lassen. Wieder war dieser Kunde mit meiner Leistung nicht besonders erfreut. Daraufhin hat ANECON mich entlassen. Es war auch allmählich Zeit. Ich war nämlich damals bereits 74 Jahre alt.    

KK: Durch Ihre vielen Jahre als Dozent auch an Hochschulen: Wie sehen Sie die Berücksichtigung und den Stellenwert in der Lehre dort von Software-Qualitäts­sicherung heute? Wenn Sie möchten, können Sie gerne dabei differenzieren zwischen Informatik und Wirtschaftsinformatik oder zwischen den verschiedenen Ländern, wo Sie Einblick gewonnen haben – es waren ja einige Länder..

HS: Meine Karriere als Hochschullehrender begann in Italien im Jahr 1999. Die italienischen Professoren, die mich aus der Reengineering Community kannten, haben mich eingeladen, am Masters Programm für Berufstätige in Benevento teilzunehmen. Es war ein von der EU gefördertes Weiterbildungsprojekt. Für fünf Jahre habe ich immer im Frühjahr eine Woche dort unterrichtet – Reengineering, Softwaremessung und Kostenkalkulation. Wir haben viele Gruppenarbeiten unter meiner Betreuung gemacht. Im Gegensatz zu Deutschland waren rund 50% der Teilnehmer weiblich und es waren meistens die Frauen, die in den Gruppen den Ton angegeben haben. Die Männer waren mehr in einem Mitläufermodus. Vielleicht fehlte ihnen die Begeisterung für meine Themen.

In Deutschland hat Prof. Franz Lehner von der Universität Regensburg einen Antrag an das bayerische Kultusministerium gestellt, dass ich an der Uni dort auch ohne Promotion lehren dürfte. Es gab ein Gutachterverfahren, wobei mir die alten Beziehungen zu den Hochschulprofessoren aus der HIS-Zeit zu Gute kamen. Der Antrag wurde genehmigt und ich begann im Sommersemester 2000 am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik I, Software Engineering für Wirtschaftsinformatiker zu lehren. Fünf Jahre später ist Franz Lehner zur Uni Passau gewechselt, aber ich blieb unter Günther Pernul weiter an der Uni Regensburg. Für zwei Jahre habe ich auch in Passau gelehrt und von dort aus auch noch an der Corvinius-Universität in Budapest im Rahmen eines Austauschprogramms.

Gleichzeitig habe ich begonnen, für Prof. Jürgen Ebert an der Uni Koblenz zu lehren. Dort habe ich Softwaretest und -messung gelehrt, abwechselnd im Sommer- und im Wintersemester. Im Frühjahr 2002 begann ich auch noch an der Universität Szeged in Ungarn für Prof. Tibor Gyimóthy zu lehren. In Szeged lehrte ich abwechselnd Test und Wartung eine Woche pro Semester. Das war alles zu viel für mich. Ich musste Passau aufgeben. In Budapest hätte ich gerne weiter gelehrt, aber das Austauschprogramm wurde zurückgefahren. Also blieben mir „nur“ Regensburg, Koblenz und Szeged übrig. Zurzeit lehre ich noch an den Universitäten Regensburg und Dresden in Deutschland sowie an den Fachhochschulen Hagenberg und Wien in Österreich. 

Bald merkte ich den Unterschied zwischen den Ländern. In Ungarn sind die Studenten und Studentinnen – in der ungarischen Wirtschaftsinformatik gibt es viele Frauen im Gegensatz zur Kerninformatik, wo fast nur Männer sind – theoretisch stark, aber praktisch etwas unbeholfen. Das liegt daran, dass die Hochschulen unterfinanziert sind und kein Geld für moderne Werkzeuge haben. Ich habe meine Werkzeuge bereitgestellt, aber die Studenten waren nicht gewohnt, überhaupt mit Werkzeugen zu arbeiten. In Koblenz waren die Studenten theoretisch schwächer. Das lag wahrscheinlich an der Bildungspolitik. Bei denselben Prüfungen wie in Regensburg schnitten sie um 10 bis 20% schlechter ab. Sie waren nicht gewohnt, auswendig zu lernen. Die Bayern kamen bis auf wenige Ausnahmen immer an die 100%. Den Bayern und den Ungarn konnte ich die gleiche Prüfung geben. Für die Rheinländer musste ich eine andere Prüfung schreiben. In Ungarn sind die Englischsprachkenntnisse besser. Die Ungarn sind gezwungen, Sprachen zu lernen, um im Leben weiter zu kommen. In Bayern haben sie das nicht nötig. Es reicht, wenn sie Hochdeutsch sprechen. Ich hatte gelernt, mein Lehrniveau den Studenten anzupassen. Das hat schon in Italien begonnen.

Jetzt, da ich an Fachhochschulen in Wien und in Hagenberg lehre, muss ich unterschiedliche Standards setzen. In Wien ist fast die Hälfte der Studenten mit Migrationshintergrund. Das heißt, sie müssen drei Sprachen beherrschen – ihre Muttersprache, Deutsch im Betrieb und dann noch Englisch in der Schule. Natürlich sind sie benachteiligt. Ich muss ihnen entgegenkommen. In Hagenberg sind die Englischkenntnisse sehr gut. Sie sind auch praktisch sehr versiert, weil die Fachhochschule dort mit den modernsten Mitteln ausgestattet ist. Die Englischunterricht in den Schulen in Oberösterreich scheint besser zu sein als im benachbarten Bayern.

Schließlich unterrichte ich seit drei Jahren an der Technischen Universität Dresden, jedes Sommersemester 32 Stunden. Dort sind die Studenten praktisch sehr begabt, aber theoretisch etwas schwächer als die Bayern. Ich merke, es hapert mit der Grundausbildung. Es wird in Sachsen zumindest früher nicht so viele gute Englischlehrer gegeben haben. Mit den Übungen kommen die Sachsen gut zurecht. Sie sind praktisch veranlagte Menschen. Jetzt reicht es an Ländervergleichen, sonst handele ich mir wieder einen Rassismus-Vorwurf ein.   

KK: In Deutschland hat das Thema Software-Qualitätssicherung ja auch durch die Fraunhofer-Institute stark an Bedeutung zugenommen in den letzten zwei Jahrzehnten, ich denke etwa an das IESE in Kaiserslautern und auch an weitere Einrichtungen. Sehen Sie das auch so als weiteren „Schub“ für das Gebiet und sind die Spuren aus Ihrer Praxissicht schon deutlich sichtbar geworden?

HS: Das IESE in Kaiserslautern hatte ja schon immer einen Schwerpunkt in der Qualitätssicherung. Der Gründer und langjährige Leiter Prof. Dieter Rombach hatte an meiner alten Universität Maryland bei Victor Basili gearbeitet. Er genießt in Amerika einen exzellenten Ruf als Fachmann für Metrik und Messung. Prof. Peter Liggesmeyer am IESE, der heutige geschäftsführende Institutsleiter, war einige Zeit in Maryland, um das Institut dort aufzubauen. Es besteht weiterhin eine enge Beziehung zwischen dem IESE und der Universität Maryland, was Forschung auf dem Gebiet der Qualitätssicherung anbetrifft. Prof.  Liggesmeyer, der heutige Präsident der GI, hatte schon seinen Promotionsschwerpunkt im Softwaretest  und hat sehr früh einen Ruf als Testexperte gewonnen. Als er noch wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bochum war, hatte ich mit ihm zu tun. Ich weiß nicht, zu welchem Grad ich ihn beeinflusst habe. Jedenfalls hat er sich in den 1980er Jahren für meine Arbeit auf dem Gebiet des Testens stark interessiert.

Vor mir auf meinem Schreibtisch blicke ich auf sein Buch „Modultest und Modulverifikation“, das er mir damals geschenkt hat. Dann habe ich das Gebiet verlassen und der Kontakt, auch der mit Prof. Rombach, war nicht mehr so stark. Ich denke, das IESE wird weiterhin das Qualitätsbewusstsein in Deutschland und über Deutschland hinaus durch seine Konferenzen und Veröffentlichungen stark prägen. Ich meine, das IESE hat auch ein mächtiges Wort in der Forschungspolitik mit zu reden. Zusammen mit dem Lehrstuhl von Prof. Manfred Broy an der TU München setzen sie die Latte für Softwarequalität weltweit. Daneben ist auch die GI-Fachgruppe für Test, Analyse und Verifikation (TAV) von Software zu erwähnen. Sie gehört zu den stärksten GI-Fachgruppen. Außerdem ist die ISTQB nirgendwo so stark wie in Deutschland und die ASQF geht jetzt in die USA. Man könnte sogar behaupten, Deutschland sei die Heimat der Softwarequalität.

KK: Sie waren ja auch immer ein konstruktiv-kritischer Beobachter des Software-Engineering allgemein und nicht zuletzt auch der Programmiersprachen und eben Programmierung. Wie ist Ihre Sicht auf die Programmiersprachenthematik heute?

HS: Meine Meinung zu den Programmiersprachen ist, dass wir uns im Kreis drehen. Früher gab es internationale Ausschüsse, die mit Expertengremien über Programmiersprachen entschieden haben. FORTRAN, ALGOL und COBOL waren Produkte solch wissenschaftlicher Gremien. Die für meine Begriffe hervorragende Sprache ADA ist auf diese Weise entstanden, eine syntaktisch sauber definierte Sprache. Pascal und Modula 2 waren auch musterhafte Sprachen, die aus der Welt der Wissenschaft kamen.

Dann hat die Industrie die Federführung bei der Sprachentwicklung an sich gerissen. Ergebnisse davon sind C++, Java, C# und eine Reihe weborientierter Sprachen wie PHP, Python, Ruby usw. Die Wissenschaft hat die Kontrolle über die Sprachentwicklung schon lange verloren. Ein jeder kann eine neue Sprache in die Welt setzen und wenn es ihm gelingt, eine Schar treuer Anhänger für seine Sache zu begeistern, breitet sich diese Sprache wie eine Epidemie über die Welt aus, als ob wir nicht schon genug Sprachen hätten. In der Programmiersprachwelt haben wir den wahren Turm von Babel. Vielleicht ist das die Strafe für die ungebändigte Machtgier der rivalisierenden Konzerne, denn wer die Sprache bestimmt, bestimmt, wie die Menschen denken. Sehr oft führt die Wahl einer proprietären Sprache in eine Sackgasse, siehe das Schicksal vieler 4GL-Sprach­anwender. Heute müssen diese Anwender mit hohen Kosten den Weg zurück zu einer Standardsprache finden. Es ist wirklich schade, dass die Sprachentwicklung derart auseinander gelaufen ist.

KK: Machen wir bitte mal einen Blick in die Zukunft, Teil 1: Welches sehen Sie als die Hauptherausforderungen in Bezug auf Software-Qualitätssicherung vor uns liegen? Was lässt sich dabei vielleicht noch mehr an Automatisierung machen als bisher?

HS: Ich sehne  mich nach dem Tag, an dem nicht mehr getestet werden muss, wenn nur der Source Code analysiert, verifiziert und validiert wird. Der Code bestimmt alles, was an einem Rechner oder in einem Rechnernetz geschieht. Also muss es möglich sein, an Hand des Codes festzustellen, ob ein System sich korrekt verhalten wird oder nicht. Wir brauchen eben Spezifikationssprachen, mit denen wir den Code vergleichen können. Das ist wahrlich keine einfache Anforderung, aber das endlose Herumtesten ist auch keine. Wir brauchen Automaten, um das korrekte Verhalten anderer Automaten zu beurteilen. Ich hoffe, dass dieser Tag bald kommt, aber ich bin unsicher, wie lange wir brauchen, um ihn zu erreichen. Es gibt schon erfreuliche Entwicklungen auf diesem Gebiet, Software, die sich selbst kontrolliert und merkt, wenn sie sich fehlverhält. Das müssen wir stärker forcieren, vor allem jetzt, wo so viele menschliche Tätigkeiten automatisiert werden.

KK: Zum Schluss und Blick in die Zukunft, Teil 2: Als Sie vor zwei Jahren einen stark besuchten und von Studierenden und darüber hinaus rege beachteten Vortrag bei uns an der Universität Jena hielten, berichteten Sie im Nachgespräch von Ihren Promotionsabsichten – bzw. es war wohl schon konkreter als „nur“ Absichten. Was man als Unruheständler eben so alles tut.. Darf ich fragen zum Status, wächst die Dissertationsschrift – und was kommt danach?

HS: Ich habe immer bereut, dass ich damals in Maryland nicht gleich promoviert habe. Dieses Versäumnis hat mich die ganzen Jahre geplagt. In Amerika zählt, wie viel Geld Du hast, in Europa zählt, welchen Bildungsgrad Du erreicht hast. Es stört mich, dass ich hier in dieser Wertehierarchie den Gipfel nie erreicht habe. Ich bin vieles gewesen und nichts geworden. Im Jahre 2012 habe ich in einem Promotionsausschuss an der Universität Amsterdam mitgewirkt. Der Kandidat – ein polnischer Gaststudent – hat über die Analyse von Mainframe-Applikationen geschrieben. Da ich einer der letzten Experten in Europa für dieses Thema bin, wurde ich eingeladen, die Arbeit zu begutachten. Da kam aber wiederum die Frage auf, ob ich als nicht Promovierter über eine Promotionsarbeit entscheiden dürfte. Dort habe ich den Entschluss gefasst, doch noch zu promovieren.

Ich habe mit Professor Chris Verhoef gesprochen, den ich schon lange aus den Wartungs- und Reengineering-Konferenzen kannte. Wir haben vereinbart, dass wir erst mindestens fünf Veröffentlichungen in international anerkannten Zeitschriften und Konferenzen gemeinsam publizieren. Dieses Jahr sollte ich dieses Ziel erreichen. Ein letzter Artikel wurde von der IEEE Software akzeptiert. Es wird demnächst erscheinen. Damit habe ich schon über 450 Papers und Artikel in deutscher und englischer Sprache publiziert. In der Zwischenzeit sammele ich fleißig Material für meine Dissertation. Das Thema ist automatisierte Softwaremigration.  Nach meiner Entlassung von der ANECON habe ich eine neue Aufgabe als Migrationsberater für das österreichische Bundesland Burgenland gefunden. Das Projekt ist die Fallstudie für meine Arbeit. Ich habe schon den alten Code in Visual Age und PL/I vermessen, nachdokumentiert und ein Repository aufgebaut. Der Visual Age Code muss re-implementiert werden. Den PL/I-Code will ich versuchen, automatisch nach Java umzusetzen. Mit COBOL ist mir das schon mal für den Flughafen Wien gelungen. Ich hoffe nur, dass ich es durchhalte. Ich habe inzwischen meinen 75. Geburtstag gefeiert und arbeite gleichzeitig an einem letzten Buch – Endstation Wien. Das Buch schildert meine IT-Projekt­erfahrungen im deutschsprachigen Raum von der HIS bis zur ANECON. Das muss auch erzählt werden.

KK: Lieber Herr Sneed, ganz herzlichen Dank für diese Tour d’Horizon über 45 Jahre Software-Engineering, hoch spannend. Ich denke, es wird viele interessieren.

Samstag, 18. April 2015

Erinnerungen an Friedrich L. Bauer (1924-2015)

Der Tod des Kollegen Friedrich Ludwig Bauer (meist als F. L. Bauer bezeichnet) ruft Gedanken wach an manche gemeinsame Begegnungen und die Entwicklung der deutschen Hochschulinformatik allgemein. Beides ist für mich nicht voneinander zu trennen. Bauer galt als der unbestrittene Nestor der deutschen Informatik. Mit dem Titel Nestor, der an einen griechischen Teilnehmer des Troja-Feldzugs erinnert, verbindet man eine Persönlichkeit, die man als den „Altmeister“ einer Wissenschaft oder den Begründer eines bestimmten Verfahrens oder einer Denkrichtung ansieht.



Bauer war in Regensburg, der Hauptstadt der Oberpfalz, geboren. Er hatte Mathematik, Theoretische Physik und Astronomie an der TU München studiert. Nach zwei Jahren in Mainz war er ab 1963 ordentlicher Professor für Mathematik an der TU München. Er war Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften und war Träger mehrerer bayrischer und anderer Auszeichnungen. Er wirkte bevorzugt in und für Bayern, aber auch weit darüber hinaus. Er wurde 1989 emeritiert.

Der Laudatio entsprechend, die Heinz Zemanek 1987 [4] anlässlich von Bauers Ernennung zum GI-Ehrenmitglied hielt. lässt sich Bauers Wirken unter vier Überschriften gliedern: Lehrer und Forscher, Autor und Historiker, Organisator der Informatik in Deutschland, Internationale Figur. Dieser Gliederung will ich folgen, setze dabei aber meine persönlichen Akzente.

Lehrer und Forscher

Bauers Name war mir seit seiner Mitarbeit an der PERM bekannt. Die PERM (Abk. für Programmgesteuerte elektronische Rechenanlage München) wurde in den Jahren 1952-1956 an der TU München unter der Leitung von Hans Piloty gebaut. Zu zwei der Hardware-Entwickler (Walter Proebster, Hans Otto Leilich) hatte ich später lange und intensive Kontakte. Nach einer gemeinsamen Zeit im Forschungslabor Zürich der IBM wurde Proebster Nachfolger von Karl Ganzhorn (1921-2014) als Leiter des Böblinger Labors. Leilich wurde Professor in Braunschweig. Obwohl nicht sehr zuverlässig, konnte die PERM Programme ausführen. Um deren Entwicklung und Darstellung machten sich Bauer und sein Freund Klaus Samuelson Gedanken.

Obwohl es mit COBOL und Fortran effektive Sprachen für den kaufmännischen Bereich einerseits und den technisch-wissenschaftlichen Bereich andererseits gab, ergriff eine Gruppe europäischer Numeriker die Initiative zur Definition einer Sprache, die besser als Fortan geeignet sei, um mathematische Algorithmen auf Papier zu veröffentlichen. Diese Zielsetzung geriet jedoch bald in Vergessenheit. Algol 58 und später Algol 60, so hieß die von Bauer, Peter Naur, Heinz Rutishauser und andern definierte Sprache und wurde die bevorzugte Programmier- und Publikationssprache an europäischen Universitäten. Sie sollte außerdem die befürchtete Dominanz der Industrie auf diesem aufstrebenden Feld verhindern bzw. brechen. Bauers Schüler Manfred Paul und Rüdiger Wiehle schrieben einen der ersten Algol-Compiler für die IBM 7090 zusammen mit Kollegen (wie David Gries) an der University of Illinois.

Bauers Bekanntheit resultiert unter anderem daher, dass er das bei dem Schulrechner Stanislaus und später bei der PERM angewandte Kellerprinzip zur Verarbeitung klammerfreier Formeln 1955 zum Patent anmeldete. Es ist eines der ersten Software-Patente überhaupt. Bauers Ernennung zum ‚Computer Pioneer‘ durch die IEEE im Jahre 1988 bezieht sich auf diese Erfindung. Erst mit den MP3-Patenten von Karlheinz Brandenburg und Kollegen gab es 50 Jahre später einen deutschen Beitrag zur technischen Seite der Informatik, der vergleichbares Aufsehen erreichte.

Wie sehr es Bauer am Herzen lag, die akademische Ausbildung in ganz Bayern zu fördern, zeigt sich darin, dass er von 1984 bis 1995 Direktor der Ferienakademie der Universität Erlangen und der TU München war. In Gasthöfen im Sarntal trafen sich Professoren und ausgewählte Studenten aus mehreren Fachbereichen jährlich zu einem mehrwöchigen wissenschaftlichen Seminar.

Autor und Historiker

Bauers Wirken als Autor hat sich vor allem in mehreren Lehrbüchern niedergeschlagen. Den größten Einfluss hatte zweifellos die zweibändige Einführung in die Informatik [1], die er mit Gerhard Goos zusammen verfasste. Er vertritt darin eine so genannte Top-Down-Lehrmethode. Diese geht vom Allgemeinen zum Speziellen. Sie stellt Grundbegriffe der Programmierung an die Spitze. Angeblich mache dies von den Zufälligkeiten der technischen Entwicklung frei. Es zwinge den Anfänger zum Nachdenken, anstatt sofort brauchbares Wissen (Patentlösungen) zu besitzen. Für die Übungsbeispiele wurde von Bauer/Goos anfangs Algol 68 empfohlen. ‚Eine begrifflich ebenso reichhaltige wie differenzierte Sprache mache den Übergang zu andern Sprachen sehr leicht‘ – so hieß es. Bauers Publikationen zur Kryptologie [5] sind Standardwerke der Informatik. Durch seine Beschäftigung mit diesem Gebiet konnte er sogar Vertreter des Geheimdiensts in seine Vorlesung locken.

Von seiner Tätigkeit als Historiker ist vor allem seine Arbeit für die Computer-Ausstellung des Deutschen Museums zu nennen. Zusammen mit Alfred Krösa, einem früheren Böblinger Hardware-Entwickler, schuf er drei separate Ausstellungen, nämlich für Informatik und Automatik (1988), für Mikroelektronik (1990) und das Mathematische Kabinett (1999). Ich erinnere mich sehr gerne an eine persönliche Führung, die Bauer mir gab. Einige der Böblinger Maschinen, die im Interview mit Edwin Vogt erwähnt sind, hatten es dorthin geschafft. Im Informatik-Spektrum, dessen Mitherausgeber er war, pflegte er über mehrere Jahre hinweg eine Rubrik ‚Historische Notizen‘. Darin griff er immer wieder einzelne Themen aus der Frühgeschichte der Computerei auf. Einige dieser Essays erschienen gesammelt in papierner Buchform. Bauer verfasste auch eine kurze Geschichte der Informatik, die 2009 erschien. Ich möchte dieses Buch nur oberflächlich einordnen. Nach meiner Meinung ist es vergleichbar mit einem Buch, in dem man die Geschichte des Automobil- oder Maschinenbaus nur aus der Sicht der entsprechenden Hochschulwissenschaft darstellen würde. Eine solche Geschichte ist vermutlich leichter zu schreiben und zu lehren als eine Geschichte, die Industrie und Wirtschaft mit einschließt.

Sehr lebhaft erinnere ich mich an eine Tagung im Jahre 2000 im Heinz-Nixdorf-Forum in Paderborn [6]. Zusammen mit amerikanischen Historikern versuchte man, für Software eine historische Perspektive zu definieren. Bauer war der Star der Veranstaltung. Er benutzte seinen Vortrag, um alle seine frühen Arbeiten (Stanislaus, Kellerprinzip) ins rechte Licht zu rücken. Geradezu visionär war seine Schlussthese: ‚Software is the winner in modern technology. Hardware may be considered as the inevitable evil.‘ Dass der Dialog mit den Historikern auch mich reizte, beweist ein Satz, der sogar Eingang in den Epilog zur Tagung fand, den Michael Mahoney (1939-2008) verfasste: ‘New engineering knowledge is valuable, so don´t look for it on the streets. … The knowledge of engineers (including that of software engineers) expresses itself more in products than in papers’. Der damals in Princeton lehrende Mahoney hatte einen sehr guten Kontakt zu Bauer und den andern deutschen Informatik-Pionieren, da er einen Teil seines Studiums in München verbracht hatte.

Organisator der Informatik in Deutschland

Bauers Verdienste für den Aufbau des Studienganges Informatik sind unbestritten. Seit 1967 bot er an der TU München zunächst eine Vorlesung zur ‚Elektronischen Informationsverarbeitung‘ an. Aus dem Diplommathematiker mit Nebenfach Informationsverarbeitung wurde schließlich 1972 der Diplom-Informatiker. Er kämpfte sogar vor Gericht für die Freigabe des Begriffs Informatik, der von der SEL AG in Stuttgart für ein Werksgebäude belegt war  ̶  allerdings ohne Erfolg.

Im Jahre 1969 ergriff Bauer die Initiative zur Gründung der Gesellschaft für Informatik (GI), nachdem die Bundesregierung sich zur Förderung des Informatikstudiums entschlossen hatte. Er übernahm zwar selbst kein Amt in der GI, beeinflusste aber sehr stark ihren Weg, vor allem durch seine Schüler und Münchner Kollegen (Brauer, Broy, Denert, Deussen, Goos, Jessen, Paul, Seegmüller, u.a.). Als Folge davon wurde die Informatik in Deutschland ein Kind der Mathematik, wie dies auch von Broy [7] gesehen wird. ‚Wäre es nicht besser gewesen, wenn die Elektrotechnik sich dieser Aufgabe [d. h. Gründung der Informatik] angenommen hätte?‘ so fragt Broy, gibt aber selbst keine Antwort. Obwohl auch ich schon öfters Antworten zu dieser Frage zu geben versucht habe, würde es hier zu weit führen, darauf einzugehen. Erwähnen möchte ich, dass der Erfolg, den die Informatik dank Bauers Engagement zweifellos erzielte, auch Neider hervorrief. Nicht alle Fachgebiete oder alle Universitäten konnten von dem öffentlichen Interesse, das die Informatik erzielte, in gleicher Weise profitieren.

Internationale Figur

Bauers Bekanntheitsgrad im Ausland wird durch die beiden Software-Engineering-Tagungen in Garmisch [2] und Rom [3] bestimmt. Beide Tagungen wurden von Bauer initiiert. Als Mathematiker hätte Bauer erkannt,  ̶  und seinen Kollegen vermittelt  ̶  dass Informatik im Grunde eine Ingenieurkunst ist. Die Tagungen und ihre Berichte lenkten das internationale akademische Interesse auf die Frage der systematischen und industriellen Software-Entwicklung. Seither gibt es an vielen Orten neben der Informatik (oder den Computerwissenschaften) einen zweiten Studiengang, Software Engineering genannt. In Deutschland ging nur die Universität Stuttgart (von Jochen Ludewig angeregt) diesen Weg.

Als Bauers eigene Beiträge zur Diskussion in Garmisch werden meist die folgenden zwei Sätze zitiert: ‚What is needed is not classical mathematics, but mathematics. Systems should be built in levels and modules which form mathematical structure' (S.37 von [2]). Bauer beschränkte sich darauf, die stärkere Anwendung formaler Methoden zu fordern und zu fördern. Gelegentlich verlangte er sogar, dass Entwickler nur dann einen Auftrag akzeptieren sollten, wenn der Auftraggeber bereit sei, Vor- und Nachbedingungen eines Anwendungsprogramms formal zu spezifizieren. Nach meiner Meinung ist das eine Position, die nicht nur von Bauer vertreten wurde. Sie ignoriert leider die Möglichkeit von Definitionsfehlern. Außerdem widerstrebt es vielen Mathematikern, dass ‚gut genug für den Zweck‘ ein gutes Prinzip ist  ̶  zumindest aus Ingenieur-Sicht. Dass Bauer in solchen Fragen wirklich über seinen Schatten als Mathematiker sprang, ist mir nicht bekannt.

Die TU München stiftete Bauer zu Ehren den Friedrich L. Bauer-Preis für Informatik. Er wird seit 1992 vergeben. Der erste Träger war Zohar Manna (Jahrgang 1939) aus Israel. Manna und sein Kollege Amir Pnueli (1941-2009) gelten als Bauers Geistesverwandte, da auch sie ihr Lebenswerk der mathematischen Grundlegung der Informatik widmeten.

Persönliche Interaktionen

Meine Einladung zu der Garmisch-Konferenz verdankte ich nicht Bauer,  ̶  auf dessen Bildschirm ich erst später wahrgenommen wurde  ̶  sondern Louis Bolliet aus Grenoble, den ich aus der gemeinsamen Zeit in New York City kannte. Ich war ja nur ein Industrievertreter, dazu noch von einer amerikanischen Hardware-Firma, und nicht von Siemens oder Telefunken. Später war ich öfters in München, und zwar als vom BMFT bestellter Gutachter eines Sonderforschungsbereiches, den Bauer leitete. Es entstand daraus später ein Projekt, mit dem mein Kollege Horst Remus, damals bei IBM in Santa Teresa, CA, mehrere Jahre lang kooperierte.

Viele Kollegen kennen die Geschichte, die ich bereits vor vier Jahren in diesem Blog erzählte. Ich war im Jahre 1977 zu einem Kolloquiumsvortrag in München eingeladen, in dem ich es wagte, eine Arbeit von Bauers Freund Peter Naur zu kritisieren. Als ich mich bei der Jahrestagung der GI in Berlin im Jahre 1978 in einem eingeladenen Vortrag zu der Bemerkung hinreißen ließ, dass sich die Industrie  ̶  anders als die Wissenschaft  ̶  keine Software leisten könnte, in der nach der externen Veröffentlichung auf 25 Programmzeilen 15 Fehler nachgewiesen werden, war ich nach Bauers Meinung zu weit gegangen. Es kam zu einer bewegten Diskussion. Ich rechnete es ihm und seinen Münchner Kollegen hoch an, dass ich nach meiner Frühpensionierung im Jahre 1993 dennoch eine Professorenstelle an der TU München angeboten bekam. Ich betrachte heute viele von Bauers Schülern als gute Freunde und Kollegen. Sie setzen Bauers Werk fort.

Zusammenfassung

Kein Mensch kann in allem Vorbild sein – nicht einmal Fritz Bauer. So hatte es Heinz Zemanek in seiner Laudatio formuliert. Nur am Anfang einer neuen Erfindung wüchsen Universal-Figuren heran wie er.

Die Informatik weltweit verliert mit Bauer einen unermüdlichen Antreiber und Ideengeber, einen verlässlichen Wegweiser und Aufpasser. Die deutsche Informatik muss ohne seine wachende Sorge auskommen, die Münchner Informatik ohne ihren Übervater. Das Informatik-Spektrum verliert einen der ursprünglichen Herausgeber nach 38 Jahren. Sein Wirken wird Spuren hinterlassen, primär in Deutschland, aber auch international. Diese sind erheblich und fast alle positiv. Wer viel tut, eckt eher an, als jemand der wenig tut. Wer Großes versucht, dem misslingt auch schon einmal Einiges. Dessen war sich F.L. Bauer bewusst. Sein Andenken wird Ansporn sein.

Zusätzliche Referenzen
  1. Bauer, F. L., Goos, G.: Informatik – Eine einführende Übersicht. 2 Bände; 4. Auflage; Heidelberg 1991
  2. Naur, P., Randell, B. (eds.): Software Engineering: Report on a Conference Sponsored by the NATO Science Committee. Garmisch October 7-11, 1968: NATO Scientific Affairs Division 1969.
  3. Randell, B., Buxton, J. N., (eds.): Software Engineering Techniques: Report of a Conference Sponsored by the NATO Science Committee, Rome October  27-31, 1969; NATO Scientific Affairs Division 1970 
  4. Zemanek, H.: Laudatio für F. L. Bauer anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft in der Gesellschaft für Informatik am 22. Oktober 1987. Informatik Spektrum 11(1988). 3-8.
  5. Bauer, F.L.: Entzifferte Geheimnisse. Methoden und Maximen der Kryptologie. 3. Auflage. Berlin 2000
  6. Bauer, F. L.: A Computer Pioneer’s Talk: Pioneering Work in Software During the 50s in Central Europe. In: Hashagen, U., Keil-Slawik, R., Norberg, A. (eds.): History of Computing: Software Issues. Heidelberg 2003. 11-22.
  7. Broy, M.: Von der Ingenieurmathematik zur Informatik. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedrich L. Bauer zum achtzigsten Geburtstag. Informatik Spektrum 27 (2004).367-370

Sonntag, 12. April 2015

Wirtschaftsinformatik – noch praktischer geht es kaum

Manchen jungen Leuten erscheint die Informatik zu mathematiklastig oder zu technisch. Ich will nicht mein Leben lang von morgens bis abends programmieren – so heißt es oft. Dieses und ähnliche Klischees  ̶  ob berechtigt oder nicht, das spielt keine Rolle  ̶  beeinflussen nicht selten die Berufswahl, etwa bei Abiturienten. Für dieses Dilemma gibt es eine Antwort. Sie heißt Wirtschaftsinformatik. Während die Inhaber von Informatik-Lehrstühlen ihre Daseinsberechtigung oft nicht in der Ausbildung des Nachwuchses für praktische Berufe sehen, ist diese Einstellung bei Wirtschaftsinformatikern seltener anzutreffen.

Ein wenig Geschichte

Die Informatik hat einen Teil ihrer Wurzeln im numerischen Rechnen. Besonders die Astronomen, aber auch die Optiker und die Geodäten waren früher meist große Numeriker. Carl Friedrich Gauss (1777-1855) war ein Paradebeispiel. Oft beschäftigten sie hauptamtliche Rechner, von denen viele Frauen waren. Konrad Zuse (1910-1995) war Bauingenieur und musste die Statik von Flugzeugtragflächen und Propellern berechnen. Da dies sehr aufwendig war, erfand er die Z1. Ob dies schon ein Computer war oder nur eine Rechenmaschine, darüber streiten sich die Historiker. Kaufleute verwandten Lochkartengeräte, um die Lagerverwaltung, das Bestellwesen und die Lohnabrechnung sicherer und schneller zu machen. Hieraus entstand die elektronische Datenverarbeitung (auch EDV genannt). In der Informatik, das in den 1970er Jahren als neues Wissens- und Berufsfeld akzeptiert wurde, schienen beide Zweige zusammen zu finden. Als fast alle neugeschaffenen Lehrstühle überall mit Mathematikern besetzt wurden, begehrten die Betriebswirte auf und gründeten das Studienfach Wirtschaftsinformatik. In Amerika besteht die Spaltung ebenfalls. Auf der einen Seite ist die Computerwissenschaft (engl. computer science), auf der anderen die Informationssysteme (engl. information systems).

Selbstverständnis der Wirtschaftsinformatik

Man kann sagen, dass Wirtschaftsinformatik (abgekürzt WI) einerseits einschränkender ist als die Informatik, andererseits aber weitergehender. Sie interessiert sich nur für einen einzigen Anwendungsbereich der Informatik, allerdings einen recht großen. Der Begriff Wirtschaft steht hier stellvertretend auch für den öffentlichen Bereich, also die Verwaltung. Die WI fühlt sich aber auch zuständig, wenn Informatikmethoden noch nicht oder nicht mehr zum Einsatz kommen. Ihre Methoden sind sowohl analytisch wie konstruktiv. Die Empirie überwiegt als Quelle des Wissens. Das Gewinnen von Erkenntnissen über wirtschaftliche Zusammenhänge hat einen eigenen Stellenwert, unabhängig davon, ob sich Informatik einsetzen lässt oder nicht.

Für das komplexe Geschehen in der Wirtschaft (und in der Gesellschaft) erhofft man, dass es sich durch schrittweise Automation kontrollieren oder zumindest vereinfachen lässt. Es wird angenommen, dass Individuen und Unternehmen weitgehend rational handeln. Eine typische Methode des Erkenntnisgewinns ist die Fallstudie. Sie wird ergänzt durch Umfragen und Modellbildung. Den meisten Modellen liegen mathematische Abstraktionen zugrunde. Wenn immer Informatik zum Einsatz kommt, muss das gesamte Spektrum konstruktiver Methoden abgedeckt werden, beginnend mit der Ist-Erfassung, über die Sollkonzeption, den Entwurf, die Implementierung, bis zur Systemeinführung und Wartung.

Studieninhalte der WI

Der Inhalt des Studienfaches WI hängt etwas von dem ab, was ihre Pioniere als wichtig definierten und was die heutigen Protagonisten für relevant halten. Natürlich wird an jedem Studienort nur das angeboten, was man personalmäßig beherrscht oder wozu die sonstigen Voraussetzungen vorhanden sind. Im Folgenden sind die GI-Empfehlungen von 2003 kurz wiedergegeben. Danach sollen die Inhalte der WI-Ausbildung sieben Schwerpunkten zugeordnet sein.

(1) Allgemeine Grundlagen:  Arten von Informationssystemen;  Bezüge zwischen WI und Unternehmensführung; Rechtliche Rahmenbedingungen (Vertragsrecht, Urheberrecht, Datenschutz, Betriebsverfassung, Unternehmensrecht, Produkthaftung); Methoden aus den Verhaltenswissenschaften; Informatik-Industrie; Markt für Informatik-Produkte.

(2) Informations- und Kommunikationstechnologie: Funktionsweise und Nutzungsformen von Rechner- und Betriebssystemen: Hardwarekomponenten, Rechnerarchitekturen, Systemsoftware:  Hardware- und Software-Plattformen sowie Middleware und Entwicklungsplattformen;  Rechnernetze: Internet, Intranet; lokale Netze, Weitverkehrsnetze; drahtlose Netze; Datenkommunikation: Dienste  und Produkte.

(3) Informationsmanagement: Produktionsfaktor Information; Gestaltung der Informationsfunktion in Unternehmen; Nutzen von Information; Informationsbedarfsanalyse; Planung, Steuerung und Kontrolle der Ressourcen Hardware und Software; Informationsversorgungsstrategie; Qualität der Informationsversorgung; Risikoanalyse; Kosten-Nutzen-Betrachtungen; Controlling der Informationsversorgung; Aufbauorganisation, Outsourcing; Informationsmarkt;  Gestaltung und Betrieb von Informationsnetzen zur Schaffung von Mehrwert; Diffusion von Standards, Interoperabilität; Systeme zur Unterstützung der Kooperation; Sicherheit in der Informationsverarbeitung; Datenschutz;  Informationssystem-Architektur als „Generalbebauungsplan“ des Unternehmens; Modelle, Methoden und Werkzeuge zur Gestaltung von Architekturen; technologische Infrastruktur; Integrationskonzepte, individuelles/personelles Informationsmanagement.

(4) Betriebliche Informationssysteme, Electronic Commerce:  Netzorientierte Aspekte, einschließlich des Mobile Commerce/Mobile Business; Wirtschaftszweigorientierte Informationssysteme, insbesondere in Industrie, Handel und Dienstleistungssektor; funktionsorientierte Informationssysteme Funktions- und prozessübergreifende Integrationsbereiche; Elektronische Marktplätze; digitale Produkte.

(5) Anwendungssystem-Entwicklung: Analyse, Entwurf, Realisierung, Einführung, Betrieb und Wartung; Modellierung von Daten, Funktionen, Vorgängen und Prozessen; objektorientierte Modelle;  Business Objects; Geschäftsprozess- und Workflow-Modellierung; Vorgehensmodelle; Software Engineering; Softwareergonomie; Entwicklungswerkzeuge; Entwicklung webbasierter Anwendungssysteme: Website Engineering, Vorgehensmodelle; clientseitige Entwicklung , serverseitige Entwicklung; multimediale Informationsdarstellung; Internetportale; Benutzerschnittstellengestaltung; Auswahl, Anpassung und Einführung von Standardanwendungssoftware: Phasenmodell für betriebliche Anwendungssysteme; Integration von Neu- und Altsystemen; Software-Reengineering; Schnittstellen und Integration von Standardsoftware unterschiedlicher Hersteller; Schnittstellen zu technischen Systemen; Vorgehensmodelle zur Beherrschung des Integrationsprozesses.

(6) Daten und Wissen: Datenmodelle und Datenbanksysteme: Konzeptuelle Datenmodellierung, Unternehmensdatenmodellierung, insbesondere Entity-Relationship-Modellierung, objektorientierte Datenmodellierung; Datenbankschemata; Datenbankmanagementsysteme; Datenbanksprachen, insbesondere SQL; Data Mart, Data/Information Warehouse: Konzepte und praktische Lösungen;  Wissensrepräsentation und -verarbeitung, Knowledge Engineering; Wissensmanagement, Business Intelligence. 

(7) Dispositions- und Entscheidungshilfen: Mathematisch-statistische Methoden und Modelle;  Prognoseverfahren; Methoden und Modelle des Operations Research, einschließlich Methoden und Modelle der Simulation; Methoden und Modelle der Künstlichen Intelligenz, des Softcomputing und der Agententechnologie; Hilfsmittel für das strategische Management.

Mir fiel auf, dass in diesen Empfehlungen sehr viele Beispiele damals aktueller Produkte angegeben wurden. Ich habe diese hier größtenteils weggelassen. In den zehn Jahren seit Aufstellung der Empfehlungen haben einige an Bedeutung verloren; andere sind hinzugekommen. Deutlich zu erkennen ist der Versuch, möglichst in die Breite zu gehen. Dass dabei der Tiefgang leiden muss, ist unvermeidlich.

Als guten Einstieg in ein Fachgebiet können auch die Lehrbücher dienen, die dort verwandt werden. Bei der WI werden immer wieder Hansen [1], Heinrich [2], Mertens [3] und Stahlknecht [4] erwähnt.

Vergleich zur allgemeinen Informatik

Die WI unterscheidet sich von der allgemeinen Informatik (noch) darin, dass man allen Wünschen und Forderungen der Praxis äußerst zuvorkommend begegnet. Es scheint weder ein Schlagwort noch ein Marketing Hype zu geben, die nicht sofort von der WI aufgesogen werden. Ganz anders verhalten sich da Informatik-Professoren. Wie mir einer im Interview sagte, widerstrebe es ihm, ‚jeder Sau nachzurennen, die durch das Dorf getrieben wird‘. Das Optimum liegt irgendwo zwischen beiden. Das Wissen und Können, das Studierende erwerben, sollte möglichst länger als 10 Jahre wertvoll sein, es muss aber überhaupt anwendbar sein. Dass die ominöse Turing-Maschine in den obigen Empfehlungen nicht vorkommt, ist allein Grund genug, statt Informatik WI zu studieren.

Die WI ist die brave Schwester der Informatik. Wo Informatik arrogant und rechthaberisch wahrgenommen wird, ist die WI häuslich und nützlich. Sie geht vom wirtschaftenden Menschen und seinen aktuellen Wünschen und Bedürfnissen aus. Sie sucht kurzfristige Lösungen, auch wenn diese nicht immer elegant oder theoretisch sauber sind. Sie wagt sich auch dann an Probleme heran, die größer und unhandlicher sind, als ein mathematischer Geist sie durchdringen mag.

WI-Lehrstühle in Deutschland, Österreich und der Schweiz

An etwa 50 Universitäten im deutschsprachigen Raum wird ein WI-Studium angeboten. Oft gibt es dort nur einen oder zwei WI-Lehrstühle. Im Folgenden liste ich die mir bekannten Universitäten mit WI-Studiengang. Wo ich den derzeitigen Lehrstuhl-Inhaber kenne, gebe ich den Namen in Klammern an:
  • Aachen (Matthias Jarke),
  • Augsburg (Hans Ulrich Buhl),
  • Bamberg (Elmar Sinz),
  • Bayreuth (Torsten Eymann)
  • Darmstadt (Peter Buxmann),
  • Duisburg/Essen (Ulrich Frank, Roland Gabriel),
  • Erlangen/Nürnberg (Kathrin Möslein, Peter Mertens),
  • Frankfurt/Main (Wolfgang König),
  • Frankfurt/Oder (Karl Kurbel),
  • Karlsruhe (Andreas Oberweis),
  • Köln (Detlef Schoder)
  • Linz/Donau (Gerti Kappel)
  • München: LMU (Thomas Hess) und TU (Helmut Krcmar),
  • Münster (Jörg Becker, Gottfried Vossen),
  • Paderborn (Wilhelm Dangelmaier)
  • Potsdam (Norbert Gronau)
  • Saarbrücken (Peter Loos),
  • St. Gallen (Hubert Österle),
  • Stuttgart-Hohenheim und
  • Wien: Uni (Dimitris Karagiannis) und Wirtschaftsuni (Hans Robert Hansen).

Ein vollständiges Ranking veröffentlicht die Bertelsmann-Stiftung in Zeit-Online. Dabei werden unterschiedliche Beurteilungskriterien angewandt und ausgewiesen.  Folgende Fachhochschulen und private Business Schools werben für ein WI-Studium: Furtwangen, Heilbronn, Karlsruhe, Östrich-Winkel (EBS), Mitweida, Reutlingen, Stuttgart u.a. Das Portal Wirtschaftsinformatik-24 wird von WI-Studenten geführt. Sie bezeichnen sich darin ganz bescheiden als die ‚Könige der IT‘. Das Portal scheint mehr auf Fachhochschulen ausgerichtet zu sein als auf Universitäten. Generell bietet das Universitätsstudium den Vorteil, dass es nach oben offen ist. Eine evtl. Promotion ist leichter zu bewerkstelligen, als wenn man von einer FH kommt. Das FH-Studium ist in der Regel straffer und noch praxisrelevanter.

Berufsbild der Wirtschaftsinformatiker

Oft ist es wichtig, zwischen Studium und Berufsbild zu unterscheiden. Es gibt schöne Studienfächer, zu denen es kein ordentliches Berufsbild gibt, etwa Kunstgeschichte, Politik und Soziologie. Das Berufsbild wird bestimmt durch die Tätigkeiten, für die ein Absolvent mit der entsprechenden Qualifikation eingesetzt werden kann. Der Wirtschaftsinformatiker hat in diesem Punkte kaum Probleme. Wenn in Wirtschaft oder Verwaltung die Fähigkeiten eines Informatikers gesucht werden, hat der Wirtschaftsinformatiker quasi Heimvorteil. Ihm wird Kompetenz sowohl in Betriebswirtschaftslehre (BWL) als in Informatik zugetraut. Das kann bedeuten, dass Erwartungen vorhanden sind, die sich nur schwer von einer Person erfüllen lassen. Mit dieser Situation fertig zu werden, kann Geschicklichkeit erfordern. Ein Generalist hat nur dann eine Chance zu bestehen, wenn er es versteht sich von Spezialisten helfen zu lassen.

Sehr vereinfachend lässt sich sagen: WI ist das, was SAP macht. Die SAP AG  ist Deutschlands größtes und erfolgreichstes Software-Unternehmen. Daraus folgt: Solange es SAP gut geht, gibt es reichlich Arbeitsplätze für Wirtschaftsinformatiker in Deutschland. Dass die Anfangsgehälter bei Wirtschaftsinformatikern sogar etwas höher liegen als bei Informatikern, soll nicht verheimlicht werden.

Abgrenzung zum Wirtschaftsingenieurwesen

An einigen Hochschulen wird außer WI auch ein Wirtschaftsingenieur-Studium angeboten. Soweit ich dies überblicke, ist dieses Berufsbild durch das neuere Studium der WI teilweise eingeschränkt worden. Das Studium wurde etwas in den Hintergrund gedrängt. Der Wirtschaftsingenieur versucht einen noch größeren Spagat zu vollbringen, nämlich Technik allgemein mit Wirtschaft zu verbinden.

Zusätzliche Referenzen 
  1. Hansen, H.R., Neumann, G.: Wirtschaftsinformatik, Band  1 und 2. 10. Auflage; Stuttgart 2009
  2. Heinrich, L.: Wirtschaftsinformatik: Einführung und Grundlegung. München 2007
  3. Mertens, P.: Grundzüge der Wirtschaftsinformatik. 11. Auflage; Heidelberg 2012
  4. Stahlknecht, P.. Einführung In die Wirtschaftsinformatik. 11. Auflage; Heidelberg 2004

Donnerstag, 9. April 2015

Erinnerungen an Klaus Tschira (1940-2015)

Zu den Kollegen, von deren Tod wir dieser Tage erfuhren, gehört Klaus Tschira. Er war neben Dietmar Hopp und Hasso Plattner der dritte der SAP-Gründer, die lange den Weg dieses Software-Unternehmens bestimmten. Dietmar Hopp gilt als die väterliche Unternehmerpersönlichkeit, die sich stark um die Auswahl, Förderung und Motivation von Mitarbeitern kümmerte. Hasso Plattner ist der Visionär, der neue Technologien und Märkte erschloss und den es dazu trieb, das Unternehmen in Richtung USA  auszudehnen. Klaus Tschira oblag es, die Werkzeuge und Sprachen zur Verfügung zu stellen, mit denen sich universelle Anwendungen bauen ließen.

Hopp war 1967 Mitarbeiter meiner Abteilung im IBM Labor Böblingen. Er verließ uns, um zur Niederlassung Mannheim zurückzukehren, weil nach seiner Meinung die Systementwicklung zu weit vom Kunden und dessen Anwendungen entfernt sei. Plattner lernte ich 1969 bei einer der ersten Veranstaltungen der deutschen ACM-Sektion kennen, wo er sich sehr lebhaft an der Diskussion beteiligte. Auf Tschira traf ich erst in den 1980er Jahren, als wir beide im Präsidium der Gesellschaft für Informatik (GI) waren. Da er als einziger der drei aktiven SAP-Gründer den Kontakt zur GI pflegte, trafen wir uns immer wieder bei GI-Veranstaltungen. Als GI-Fellows brachten uns zuletzt die jährlichen Fellow-Treffen der GI zusammen.

In meinem Blog-Beitrag über die Firma SAP vom April 2011 hatte ich den Weg dieses Unternehmens nachgezeichnet. Er begann mit einem internationalen Kunden in Deutschland und führte in den Weltmarkt für ERP-Anwendungen. SAP ist heute Deutschlands größtes und erfolgreichstes Informatik-Unternehmen. Tschira war im Jahre 1998 als Mitarbeiter der Firma ausgeschieden und 2007 aus dem Aufsichtsrat.

Einige Nachrufe in der Presse und von Fachgesellschaften

Auf die ersten Nachrufe im Rhein-Neckar-Fernsehen wurde ich von Klaus Küspert hingewiesen. Weitere Nachrufe erschienen in Tageszeitungen wie der Süddeutschen Zeitung und der FAZ. Aber auch der Fachverlag Heise und andere Branchenmedien würdigten ihn. Die Gesellschaft für Informatik (GI) widmete ihm fünf Zeilen. Das folgende Bild zeigt ihn im Jahre 2014 an der Universität Heidelberg.




Erinnerungen zweier Kollegen

Am 4.4.2015 schrieb Hartmut Wedekind (aus Darmstadt): Ich denke an Klaus Tschira zurück und insbesondere an das Erstaunliche, was ich von ihm, einem  Naturwissenschaftler, vor über 20 Jahren erfuhr. Wir saßen damals  in seinem Büro und ich bekam von ihm ein Privatissime in Sachen "Lohn-und Gehaltsabrechnung", kurz auch "payroll" genannt. Ich habe dabei furchtbar viel gelernt. Oder anders formuliert: Mich hat's fast vom Sessel gehauen. Das Wichtigste sei es, so führte er damals aus, bei "Lohn-und Gehalt" den Verarbeitungsprozess strikt von seinem zugrunde liegende Regelwerk zu trennen. Denn was ändert sich bei "Lohn und Gehalt" ständig? Antwort: Die Regeln der Gesetze und Verordnungen und nicht etwa  die Verarbeitungsprozesse. Und dann stellte er, der Physiker, im Detail seine von ihm gemanagte Implementierung vor. Das Regelwerk wurde als Box vorgestellt, die man nach Änderungsbedarf in das komplizierte Gerüst einer Lohn- und Gehaltsabrechnung hinein schieben und heraus holen konnte. Dass  Tschira mir etwas für die allgemeine  Prozessentwicklung  ganz Fundamentales  erklärte (nicht nur für Lohn und Gehalt), begriff ich in seiner Tiefe erst später. Und wenn ich mich heute  mit "Prozessgesteuerten  Anwendungen" und den ausgesonderten Regelwerken in der Sprache BPMN befasse, denke ich immer noch an Klaus Tschira und sein "payroll"- Beispiel zurück. Von Klaus Tschira konnte man immer etwas lernen.

Auch Klaus Küspert (aus Jena) erinnerte sich dieser Tage: Sein Stifterwesen und die vielfältigen Engagements sind schon enorm. Teils war einem das ja gar nicht immer bewusst, weil es sich wiederum unter dem Dach der Stiftungen 'versteckte'. Ich bekam jetzt gerade etwas mit von seiner Förderung im Bereich Krebsbehandlung, sicher eine von -zig Initiativen (und mehr) der Stiftungen. Die wesentlichsten fachlichen Spuren bei SAP kann ich nur als Außenstehender beurteilen: Er hat meines Wissens im Bereich HR/HCM bis in die 1990er hinein Einfluss ausgeübt, sowie als ABAP-Vater, nachher gemeinsam mit Gerhard Rodé. Man kann auch sagen: Die anderen Gründer wurden von der GI nicht für "würdig" erachtet und somit nicht eingeladen, Plattner erst in den letzten Jahren. Die Universitätsinformatik hat doch die SAP über Jahrzehnte leider ignoriert: wegen ABAP, etc.  Das war wie früher das Verhältnis der Uni-Informatiker zu Fortran und Cobol. Das Verhältnis zur Wirtschaftsinformatik war natürlich anders. Ich bekam auch einmal 1998 eine bitterböse E-Mail von ihm - das kann nicht jeder oder jede von sich behaupten, es 'adelt'.

Eigene Erinnerungen

Auf meinen Wunsch hin, hatte Klaus Tschira mir technisches Material zu SAP-Produkten und System-Architekturen zur Verfügung gestellt. Sie betrafen sowohl das R/2- wie das R/3-System, deren Plattformen und Strukturen. Ich habe dieses Material in meinen Vorlesungen in Stuttgart, Rostock und München intensiv verwendet. Meine Studenten haben dies sehr geschätzt. Sie waren dankbar, dass sie auch erfahren konnten, wie und mit welchen Methoden und Werkzeugen in der Praxis gearbeitet wurde.

Aus persönlichen Gesprächen mit Klaus Tschira erinnere ich mich an zwei Beobachtungen, die ihn (und mich) sehr beeindruckten. Wenn Informatiker zu ihm ins Vorstellungsgespräch kamen, fragten sie meistens in welcher Sprache bei SAP programmiert würde. Wenn er dann ABAP erwähnte, hätte das zur Folge gehabt, dass einige ihre Bewerbung zurückzogen. Es sei eines Informatikers nicht würdig in einer Sprache der Vierten Generation (4GL) zu programmieren. So hatten es ihnen ihre Professoren eingehämmert.

Eine Einsicht überraschte ihn (ebenso wie mich). Es wäre immer eine grundlegende Weisheit der ganzen Branche gewesen, dass die Technik sich der statischen Organisation und den Abläufen anpassen müsste. Die Technik sei die Dienerin, das Unternehmen mit seiner vorhandenen Organisation die Herrin. Es seien nicht die dümmsten Kunden gewesen, die eingesehen hätten, dass man auch schon mal die Organisation an die im Markt vorhandene Software anpassen müsste. Denn Organisation, d.h. Abläufe und Verantwortlichkeiten, sei kein Selbstzweck, sondern auch nur ein Mittel zum Zweck. Die Software zu ändern, könne teurer zu stehen kommen als die Organisation zu ändern.

Klaus Tschira war ein Kollege, wie sie unsere Branche nur wenige besaß. Er konzentrierte sich auf Dinge, die Bedeutung hatten und die funktionierten. Werbung und großes Gerede lagen ihm nicht. Nach seinem Ausscheiden aus der Wirtschaft konnte er seinen Träumen nachgehen. Er förderte die Jugend, die Naturwissenschaften und deren Anerkennung durch die Gesellschaft. Auch dafür danken wir ihm. Da viele seiner Stiftungen über seinen Tod hinaus weiterleben werden, wird er nicht so schnell vergessen sein. 

Nachtrag vom 21.4.2015

In der Heidelberger Stadthalle gedachten gestern 500 eingeladene Gäste in einer Trauerfeier  an Klaus Tschira. Heinrich C. Mayr aus Klagenfurt, ein früherer GI-Prädident, war einer der Redner.

Nachtrag vom 26.4.2015

Heute wurde Dietmar Hopp 75 Jahre alt. Im Interview der Rhein-Neckar-Zeitung wird sogar der Beginn seiner Berufslaufbahn am Schönaicher First in Böblingen erwähnt.