Donnerstag, 13. August 2015

Mythen der Deutschen frei nach Herfried Münkler

Herfried Münkler (*1951) ist Politologe. Er studierte in Frankfurt am Main und promovierte über Machiavelli. Seit 1992 ist er Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Seine Vorlesungen und Veröffentlichungen werden in einem von Studenten betriebenen Blog namens Münkler-Watch kommentiert. Er nimmt sich nämlich die Freiheit, auch Meinungen zu vertreten, die vom Zeitgeist abweichen. Das nehmen Berliner Studenten nicht ohne weiteres hin. Heinrich August Winkler, der vor Wochen in diesem Blog zu Wort kam, legt in seinen Arbeiten großen Wert darauf zu zeigen, dass Geschichte zumindest teilweise ein rationales Geschehen ist. Münkler zu lesen, ist eine Art von (sommerlichem) Kontrastprogramm. In seinem 2009 erschienenen Buch Die Deutschen und ihre Mythen, erklärt Münkler einige Aspekte deutscher Geschichte, bei denen Irrationalität eine bedeutende Rolle spielte.
 
Das Wort Mythos bezeichnet ursprünglich eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Mythen erheben den Anspruch auf Wahrheit. In einem weiteren Sinn bezeichnet Mythos auch Personen, Dinge oder Ereignisse von hoher Symbolkraft. Ich bringe zunächst einige von Münklers Beispielen, um dann die Rolle von Mythen näher zu beleuchten.
 
Aus dem Mittelalter stammende nationale Mythen
 
An den Beispielen Barbarossa, Nibelungen und Faust lassen sich Eigenschaften von Mythen erläutern. Alle drei Stoffe stammen aus dem Mittelalter. Ihre eigentliche Rolle spielten sie aber erst im 19. Jahrhundert, insbesondere während und nach der napoleonischen Zeit. Germanisten und Historiker wetteiferten, wer mehr täte, um das Volk für nationale Mythen wie diese empfänglich zu machen.
 
Mit Barbarossa und der Kyffhäusersage wurde damals die Botschaft vermittelt, dass es jetzt eine Zeit des Abwartens sei, ehe das Deutsche Reich wieder zur vollen Blüte erwachen würde. Durch die Reichsgründung von 1871 erfüllte sich diese Hoffnung, wenn auch in anderer Gestalt als zu Barbarossas Zeiten. Ursprünglich galt Friedrich II, Barbarossas Enkel, als der mythisch entrückte Kaiser. Die Hohenzollern liebten es, sich als die Nachfahren der benachbarten Hohenstaufer anzusehen. Deshalb sah sich Wilhelm II. auch in der Tradition Friedrichs II., als er 1898 friedlich in Jerusalem einzog. Es war Barbarossas Gegenspieler Heinrich der Löwe, der dem Staufer vorwarf, mit deutschen Soldaten anstatt nach Osten nach Süden zu ziehen. Auch Hitlers Blick ging schon früh nach Osten. Dass er dafür aber den Projektnamen Barbarossa verwendete, sei eine absichtliche Täuschung gewesen (meint Münkler).
 
In der Nibelungensage kämen zwei verschiedene Seiten des deutschen Nationalcharakters zum Ausdruck. Siegfried sei der tumbe Held, der sich sein Schwert selbst schmiedete, sich durch seine Geschwätzigkeit jedoch in Schwierigkeiten brachte. Siegfried starb durch einen hinterhältigen Speerwurf. Dass daraus eine Dolchstoßlegende wurde, zeugt von dichterischer Freiheit. Hagen von Tronje verkörpere die berühmte Nibelungentreue. Er kämpfte auch dann weiter, als es aussichtslos war. Deutschland stand vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Nibelungentreue an Österreichs Seite. Hitler sah sie in Stalingrad am Werk, ebenso noch in Bunker in Berlin, wo er und Göbbels 1945 Selbstmord begingen.
 
Beim Faust geht es einerseits um den schwäbischen Grübler, andererseits um den modernen Forscher und Welteroberer. Goethe hat an dem Stoff ein Leben lang gearbeitet, genauer von 1775 bis 1831. Der Begriff ‚das Faustische‘ im Menschen stehe für das titanisch-promethische Element im Menschen. Es sei das urtümlich deutsche Wesen, das zu Kompromissen nicht fähig sei und zur Weltgeltung drängte, ein Muster des deutschen Sonderwegs. Manche sähen in ihm auch einen Ausbund von Hochmut und von Selbstüberschätzung. Das Faustische im deutschen Menschen sei im Ersten Weltkrieg verloren gegangen. In der DDR galt Faust als Klassenkämpfer. Wir heutigen Menschen verbinden mit Faust die Sorge, dass wir uns mit Kräften einlassen, denen wir nicht gewachsen sind.
 
Eigenschaften von Mythen
 
Mythen seien meisternde Erzählungen, schreibt Münkler. Sie schaffen Orientierung und Zuversicht. Mythen müssen Komplexität reduzieren und Schrecken der Offenheit von Lebenserfahrungen (Kontingenz) wegerzählen. Sie müssen volkspädagogisch sein und von der breiten Masse der Bevölkerung nachempfunden werden, d. h. kollektiv anschlussfähig sein. Sie können konservative oder revolutionäre Effekte haben. Sie sind oft stark ideologisch besetzt.
 
Die Erzählung, das Narrative, überwiegt bei fast allen Mythen. Die Literatur, vor allem die klassische, lebt davon. Was bliebe von Goethe oder Richard Wagner übrig ohne Stoffe aus den Mythen? Ohne Faust, ohne Nibelungen, ohne den Sängerkrieg? Das Narrativ, die Erzählung, kann sich im Laufe der Zeit ändern. Sie passt sich den Bedürfnissen der Zeit an. Neben dem Narrativen gibt es plakative (oder ikonische) Formen der Mythen. Das sind Bilder und Denkmäler. Diese ändern sich nicht; außer durch Sprengstoff oder Erdbeben. Während die Italiener ihre Denkmäler in der Stadt Rom konzentrierten, sind deutsche Denkmäler weit in der Landschaft verstreut. Beispiele sind das Hermannsdenkmal bei Detmold, der Kyffhäuser im Südharz und die Walhalla bei Kehlheim an der Donau. Das Bildhafte gewinnt meistens gegenüber dem Narrativem – nicht erst dank moderner Medien. Es ist leichter zu konsumieren und prägt sich besser ein.
 
Zielrichtungen politischer, insbesondere preußischer Mythen

Nicht nur der bekannte Roman von Felix Dahn (1834-1912) handelte vom Kampf um Rom. Mit über einer Million verkaufter Exemplare brach das Buch zur Zeit meiner Großeltern alle Rekorde. Die Gegenüberstellung von Germanentum und Römertum bewog schon Tacitus, als er uns Hermann, genannt Arminius, ans Herz legte. Germanen waren so, wie Römer sein sollten, sittsam und treu. Der Römer wurde zum Bürger erzogen, der Germane zum Krieger. Deutsch war das, was sich gegen die Romanisierung behauptete. Es war die agrarische gegen die urbane Lebensform. Die Idee der Freiheit entstamme den Wäldern Germaniens, schrieb einst Charles de Montesquieu. Das Gegenteil sei Machiavelli und die Staatsräson. Nicht nur der Katholizismus kam aus Rom, sondern auch das römische Recht, das dem fallbasiertes germanischen Recht gegenüberstand. Hermannn, der Cherusker, verkörperte den Kampf gegen Rom, genau wie Alarich, der Westgote, und Martin Luther dies taten. Rom konnte auch im spanischen oder französischen Gewand auftreten. Der Hass gegen alles Welsche wurde systematisch geschürt.
 
Dass der Mythos Preußen vor allem die Sekundärtugenden Disziplin, Sparsamkeit, Tüchtigkeit und Zähigkeit hervorhebt, hat diesen Mythos mit Recht desavouiert. Dieselben Tugenden wurden bekanntlich auch bei KZ-Wächtern und KZ-Ärzten nachgewiesen. Dass Korruptionsresistenz ebenso dazu gehörte, wird allerdings oft vergessen (z. B. von Griechenlandkritikern). Jedenfalls erhielten die Preußen die Schuld für alles, was in Deutschland schief lief: die völlige Orientierung auf den Staat sowie die fehlende Zivilgesellschaft. Dabei gab es in Preußen Reformen (von Stein, Hardenberg), die den Bürger an den Staat heranführen führen sollten. Und es gab eine preußische Variante der Aufklärung (Kant, Friedrich II). Schließlich hatte Preußen eine Königin Luise, die sich trotzt ihres frühen Todes mit 34 Jahren bei ihrem Volk einprägte, und darüber hinaus.
 
Mythen der Nazis und der DDR
 
Der Begriff Mythos begegnete mir zum ersten Mal vor 1945, als Alfred Rosenbergs ‚Mythus des 20. Jahrhunderts‘ in meiner Familienumgebung heftig kritisiert wurde. Rosenberg hatte Römer und Griechen einfach zu Ariern erklärt. Besaßen sie schlechte Eigenschaften, kam das daher, dass sie sich mit andern Rassen vermischt hatten. Am wenigsten taten dies die Spartaner. Leonidas, der an den Thermopylen den Persern widerstand, wurde einfach zum Arier erklärt.
 
Göbbels hatte ein Faible für mythenpoetisch geprägte Inszenierungen in der Politik. Sein Meisterstück war 1933 der Tag von Potsdam. Hier hatte er es darauf abgesehen, die preußische Aristokratie für Hitler zu vereinnahmen. Erst durch das missglückte Attentat von 1944 wollte man sich wieder reinwaschen. Dass Staufenberg selbst kein Preuße war, war Teil eines Ablenkungsmanövers. Hitler wollte den von Preußen inszenierten Kulturkamp gegen Rom nicht fortführen. Es kam zum Konkordat Hitlers mit dem Papst, und nach anfänglichem Misstrauen, zu einem Bündnis mit Mussolini. Auch die DDR hielt es für angebracht, der Bevölkerung Mythen amtlich zu verordnen. Dass da die Bauernkriege und kommunistische Heroen im Mittelpunkt standen, versteht sich.
 
Mythische Orte
 
Flüsse seien wahre Mythensammler, schreibt Münkler. Der Rhein, der von den Franzosen begehrt wurde, war die Heimat besonders vieler Mythen. Wagners Rheingold ist dort verborgen, bewacht von der Loreley. In Speyer sollte das deutsche St. Denis entstehen, die Grablege aller Kaiser des Mittelalters. Die Wartburg verbindet den Sängerstreit, Luther und die Burschenschaften. In Nürnberg war Albrecht Dürer tätig, die Stadt zog aber auch Hitler an. Das Dresden Augusts des Starken ist für Mythen geeignet, aber auch Heidelberg und Weimar.
 
Mythenlose Gegenwart?
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren alle Mythen über ein deutsches Reich endgültig ausgeträumt. Die Westdeutschen verwarfen alle Mythen, die gegen Rom im Umlauf gewesen waren und fuhren in Urlaub nach Italien oder Spanien. An die Stelle von Gründungsmythen, wie sie sich die DDR schuf, trat eine reine Betonung des Konsums. Münkler und viele andere sehen darin eine geistige Verflachung. Der Volkswagen und der Mercedes wurden die Maskottchen. In politischer Hinsicht seien es die Westbindung und die Europäische Integration, die Teil unseres Selbstverständnisses wurden. Dem sakralen Element, das Mythen in die Beziehung zwischen Bürger und ihren Staat zu bringen pflegen, steht reine Profanität gegenüber. 

Kann das gut gehen? So fragen sich viele. Vielleicht ist alles nur eine Frage der Zeit. Mit Adenauer, Brandt, Schmidt und Kohl hätten wir immerhin vier Kanzler, die in Zukunft für eine mythische Überhöhung in Frage kämen, meint Münkler. Aber auch die Währungsreform, das danach folgende Wirtschaftswunder sowie das Wunder von Bern hätten bereits mythenhaften Charakter angenommen. Ähnliches gilt für das Epochenjahr 1968, in dem eine neue Linke (Grüne genannt) entstand, insbesondere aber das Wiedervereinigungsjahr 1989, als Menschen, die zuvor in der DDR lebten, ums Brandenburger Tor tanzten.


Was Münkler nicht sagte
 
Heute lebt Deutschland in einer politischen Situation, die weder einen Siegfried noch einen Faust benötigt, von Barbarossa ganz zu schweigen. Wir wollen aber auch nicht nur Zuschauer am Rande sein. Es kommt darauf an, die neuen Gefahren im Innern und Außen zu erkennen, und auf sie zu reagieren. Dabei müssen und dürfen wir nicht allein handeln. Wir Deutsche sind nämlich schon seit Längerem Teil einer Gruppe von Staaten. Ein deutscher Sonderweg ist keine Lösung. Wer seine politische Aufgabe so oder ähnlich versteht, dem helfen keine Mythen.

Dass unsere politische Linke immer noch gewisse Probleme mit dem Bezug zum Hier und Heute hat, belegte Gregor Gysi in einem Interview vor einigen Tagen (am sommerlichen Werbellin-See). Gefragt, ob der demokratische Sozialismus, für den er stünde, nicht reine Utopie sei, sondern realisierbare politische Praxis, nannte er als Gegenbeweis drei Beispiele: die
Pariser Kommune von 1871, der Prager Frühling von 1968 und das Regime des Salvador Allende 1970 bis 1973 in Chile. Mein Urteil mag zwar durch meine Beschäftigung mit Münklers Buch gefärbt sein. Aber verzeihen Sie  ̶  für mich klang das stark nach Mythen, also nach für demagogische Zwecke verdichteten und verbrämten Erzählungen. Man fragt sich, wo Gysi dies bloß gelernt haben mag.

1 Kommentar:

  1. Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Mythos als fabelgleiche Erzählung, auch in der Mathematik.

    In der Mathematik wird der Begriff „Mythos“ als ein scharfer Vorwurf aufgefasst, meistens ein Vorwurf der Konstruktiven Mathematik gerichtet an die Adresse der Klassischen Mathematik. Das liegt am Begriff der Existenz, der leicht ins Fabelhafte abgleiten kann. Ein klassischer Mathematiker sagt gerne am Anfang: „Es existiert“ oder „es existiert nicht“ (ein Drittes gibt es nicht). Ein konstruktiver Mathematiker sagt hingegen „ich konstruiere“ oder „ich stelle her“. Oder aber er sagt „Ich kann es nicht, das Herstellen nämlich“. Auch ein Nicht-Können ist etwas Tief-Menschliches, weit weg von einer Fabel, einem Mythos.

    Ein Beispiel: Der klassische Mathematiker sagt: Es existiert ein Grenzwert „Null“ von „lim (x gegen 00) 1/x = 0“ . So wird das auch in der Schule gelehrt. Der Begriff „unendlich“ (00) bleibt undiskutiert, wird also dogmatisch eingeführt. Wer ans Unendliche nicht glaubt, scheidet aus. Im Religionsunterricht hört man statt „Unendlichkeit“ den Begriff „Ewigkeit“ im Rahmen einer narrativen Darstellung der Bibel. Wer an die Ewigkeit nicht glaubt, scheidet ebenfalls aus. Das haben Mathematik und Religion gemein: Kritische Konstruktivisten werden ausgeschieden, zum eigenen Schaden; aber das merken die Dogmatiker nicht, was ja dem Dogmatismus eigen ist.

    Der konstruktive Mathematiker sagt hingegen allgemein (siehe Inhetveen): „Die Bildung eines Grenzwertes ist die Aufforderung zur Herstellung eines idealen Gegenstands“. Konstruktiv stellt man die Handlung eines schrittweisen Vergrößerns einer Zahl x in den Mittelpunkt. Die Handlung muss ungestört ablaufen und beliebig häufig wiederholbar sein. Da alles auf dieser Welt endlich ist, kann das Vergrößern natürlich nicht unbegrenzt vor sich gehen. An einer Stelle hört der Konstruktivist auf und sagt „Es langt. Das Ideal des Grenzwertes ist erkennbar. Ich verzichte auf weitere Handlungen. Ich führe den Begriff „Ideal“ ein und stelle diesen Begriff dem Begriff „Realisat“ gegenüber“. So ähnlich hat auch Newton in seinen Principia (1686) argumentiert, als er die Infinitesimalrechnung erdachte. Das ist genauso wie beim Erzeugen ebener Flächen durch ständiges Aneinanderreiben von Platten (siehe das Plattenverfahren nach Dingler). Man stellt in endlicher Zeit nur ein Realisat her und sagt dann: Der Weg vom Realisat zum Ideal geschieht durch „Ideation“ (z.B. wie auch beim Übergang vom realisierten Kreis mit einem Zirkel zum Idealkreis à la Platon). Und dann sagt der Konstruktive: „Ideation“ ist nur eine besondere Form der Abstraktion, weil man das Abstrakte, das Ideal invariant (unverändert) bezüglich diverser Realisate sehen kann. Da ist sie wieder, die Invarianztheorie, die auch einen Hermann Helmholtz (1821-1894) dazu brachte, den Begriff „Energie“ einzuführen, invariant bezüglich diverser Energieformen, die man damals schon kannte.

    Wieviel Elend könnte man in den Schulen und im praktischen Leben, auch in der Politik, vermeiden, wenn man konstruktiv denken würde. Man könnte sogar mit wissenschaftlichen Methoden an die Religion herankommen, was Hermann Lübbe ja mit seinem Buch „Religion nach der Aufklärung“(1986) versucht hat. Mythen sind voraufklärerisch, das gilt als sicher. Der Aufkärer, der Konstruktivist sitzt daneben und konstruiert oder versucht zu rekonstruieren, was andere ihm vorgeben. Manchmal geht das nicht, insbesondere dann, wenn das Sagenhafte überwältigend ist und auch im Kern keine Geltung, sondern nur Unterhaltung (Show) beansprucht.

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