Montag, 10. Dezember 2018

Nur her mit den Utopien! – meint der Philosoph Richard David Precht

Richard David Precht (*1964) ist Deutschlands bekanntester, derzeit lebender Philosoph und Publizist. Mehrere seiner Bücher sind Bestseller, er fehlt in keiner Talkshow. Wer ihn einmal gesehen hat, wird ihn kaum mehr vergessen. Er trägt mit Abstand die längsten Haare. Er stammt aus Solingen und ist an der Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik in Berlin tätig. Sein neuestes Buch heißt Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft (2018, 288 S). Der Titel ist aus einem Zitat aus dem Buch Die Klassenlose Gesellschaft von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahre 1845 abgeleitet.

Utopien und Dystopien

Eine Utopie ist eine meist positive Beschreibung einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist. Der Wortstamm wird von dem griechischen Wort tópos für „Ort“ gebildet. Dagegen bezeichnet die Dystopie ein pessimistisches Zukunftsbild, das auf bedenklichen Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam macht und vor deren Folgen warnt. Die Weltliteratur ist voll von utopischen Romanen und Erzählungen, beginnend mit Thomas Moores Utopia von 1516 bis zu Stefan Andres‘ Wir sind Utopia von 1942. Eine bekannte Dystopie ist George Orwells 1984, verfasst im Jahre 1948.

Obwohl Precht sein Buch im Untertitel als Utopie ankündigt, ist es in Wirklichkeit eine Dystopie. Nur ganz am Schluss gesteht er ein, dass er es eigentlich anders gemeint hatte. ‚Der Nährboden für den Pessimismus ist gut und reichhaltig gedüngt [auch von ihm]. Doch wenn alle Pessimisten sind, darf man sicher sein, dass am Ende die Dystopie steht, weil niemand sich bemüht, den Lauf der Welt zum Besseren zu wenden. … Während der Optimist Mut braucht, kann es sich der Pessimist in seiner Feigheit bequem machen. … Pessimismus ist [jedoch] keine Lösung!‘

Kurze Wirtschaftsgeschichte

In der Gesellschaftskunde, auch Soziologie genannt, durchlief die Geschichte der Menschheit mehrere Phasen. Nach dem paradiesischen Zustand der Sammler und Jäger kamen im vorderen Orient Gruppen von Menschen auf die Idee, Tiere zu züchten und Nahrungsfrüchte anzubauen. In Europa, in großen Teilen Asiens, im nördlichen Afrika und in Mittel- und Südamerika wurde der sesshafte Bauer kulturbestimmend. Im viktorianischen England entsprang irgendwann etwas Neues, nämlich die Erzeugung von Energie und die Fertigung von Textilien mit industriellen Methoden, also mittels Maschinen. Das zog fast alle auf ihre Lohnarbeit angewiesen Kräfte aus der Landwirtschaft ab in die angeblich viel besseren Arbeitsverhältnisse in der Industrie. Die Arbeiter ordnen sich dem die Maschinen und Materialien besitzenden Unternehmer unter. Der Manchester-Kapitalismus war geboren.

Wie von Marx und Engels diagnostiziert, führte dieser zur Entfremdung und zu Klassenkämpfen. Gleichzeitig sagten sie seinen Untergang voraus, lagen dabei aber falsch. Der Gedanke des Privateigentums und die dezentrale Planung bewirkten, dass der Kapitalismus überleben konnte. Besonders in Westdeutschland bewährte sich der sogenannte Rheinische Kapitalismus. Hier wurde zum Beispiel die Mitbestimmung erfunden.

Automation und Digitalisierung

In den letzten 20 Jahren sehen Publizisten eine neue Form der Wirtschaft entstehen, die auf Automation und Digitalisierung basiert. Wie bei den oben beschriebenen Umbrüchen werden alte Tätigkeiten durch neue ersetzt. Wurden einst Landarbeiter zu Fabrikarbeitern, so werden jetzt Lohnempfänger zu Kleinunternehmern. Die Wertschöpfung, aber besonders die Güterverteilung erfolgt immer mehr ohne Mittelsmänner. Es wird dezentralisiert, viele Prozesse laufen schneller und effizienter. Es werden Unternehmen und Lebensweisen infrage gestellt. Berufe entfallen ober werden in ihrer Bedeutung verändert. Startups werden zu globalen Firmen innerhalb weniger Jahre.

Die Digitalisierung stelle einen Anschlag auf die Freiheit des Individuums dar, so diagnostiziert Precht. Unsere Politiker fühlten sich nicht dazu berufen, neue Strategien zu entwerfen. Sie hätten Angst vor den Anwälten der GAFA (siehe unten). Anstatt Stress und Beschäftigungsangst müsse die Digitalisierung bei den Nutzern auch positive Wirkungen hervorrufen. Vor allem müsse sie entschleunigen. Sie müsse zu einer Kultur der Achtsamkeit führen, zu langfristigem Denken.

Kapitalistische Dystopie

Die Automatisierung wird zwar sehr stark von der deutschen Industrie getragen, etwa in Form des Einsatzes von Robotern. Bei der Digitalisierung geht der stärkere Impuls eindeutig von Kalifornien aus. Das Silicon Valley hat in den letzten 10 Jahren vier Firmen hervorgebracht, die hier die Spitzen darstellen. Ihre Namen als Großbuchstaben abgekürzt, symbolisieren die neue Wirtschaftsmacht der Welt: GAFA für Google, Apple, Facebook und Amazon. [Andere Autoren rechnen auch Microsoft (wie Amazon aus Seattle) hinzu, und sprechen dann von GAFAM]. Nach der nahe gelegenen Universitätstadt Stanford wurde die neue Wirtschaftsform gleich zum Palo-Alto-Kapitalismus umgedeutet. Dass inzwischen auch drei chinesische Firmen zur Spitze aufgeschlossen haben, ändert nichts an der Terminologie. Zu GAFA gesellt sich halt BAT (Baidu, Alibaba, Tencent). Weitere Mitspieler erwartet man aus Russland.

Die Bedrohung, die Precht und andere Autoren sehen, ergibt sich aus einer vermuteten Mesallianz der besagten Internetkonzerne mit den Geheimdiensten ihrer Länder. Die Freiheit aller ist dann in Gefahr. Wir alle werden dann manipuliert, da die benutzten Algorithmen einen besser kennen als man selbst. Orwells 1984 lässt grüßen. Außerdem werden viele menschliche Fähigkeiten rückentwickelt, so zum Beispiel das Autofahren. Schließlich übernehmen die Transhumanisten und reden uns die Singularität ein. Prechts Sorge drückt er so aus: ‚Techniker haben Menschen noch nie verstanden, warum sollten wir ihnen daher alles überlassen?‘

Sozialistisch verbrämte Utopie

Wenn Maschinen immer mehr Arbeit übernehmen − was nicht zu leugnen ist − entstünde eine Welt ohne Lohnarbeit. Das hat Karl Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue (1842-1911) bereits beschäftigt, aber auch den Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900). Sie plädierten einst für ein Recht auf Faulheit. Auch die inzwischen untergegangene Piratenpartei dachte in diese Richtung. Bei 400 Mrd. € vererbtem Vermögen sei das Wort Leistungsgesellschaft für Deutschland nur noch ein Euphemismus, eine Beschönigung.

Wir müssten endlich dahin kommen, Bildung nicht nur als Befähigung für den Arbeitsmarkt zu verstehen, sondern als Befähigung, um seinem Leben Sinn zu geben. Wir müssten wieder zur ,Vita contemplativa‘ des griechischen Mannes kommen, wo bekanntlich Frauen und Sklaven die Arbeit machten. Die Lösung heißt Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Precht schätzt, dass dies mindestens 1500 € pro Monat sein müssen. Es muss höher liegen als Hartz IV inkl. Mietzuschuss. Das sind nämlich 950 bis 1200 €, je nach Stadt. Nur wenige Leute seien dagegen, so der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge (*1951) und der linke Politiker Gregor Gysi (*1948). Für den einen sei es nicht bezahlbar, der andere möchte es nicht auch an Vermögensmillionäre geben.

Da er immer wieder gefragt würde, wo denn das Geld herkommen solle, schlägt er jetzt dafür eine CO2-Steuer und die Finanztransaktionssteuer vor. Das müsse reichen, meint er. Bezahlen sollten auf jeden Fall die Leute, die eh zu viel Geld haben und damit an der Börse spielen. Die Möglichkeit Kryptowährungen wie Bitcoin zur Finanzierung heranzuziehen, schließt Precht aus ökologischen Gründen aus. Bitcoin allein verbrauche bereits so viel Strom wie das EU-Land Dänemark.

Wem das BGE zu wenig ist, soll halt eine private Zusatzrente abschließen. Endlich gäbe es dann eine angstfreie Arbeitskultur. Selbst Kloputzen würde ordentlich bezahlt werden. Es sei keine Frage, ob das BGE kommt, es sei nur eine Frage wann. Wenn es demnächst mehr als fünf Millionen Arbeitslose gibt, sei die Zeit reif.

Gutes und schlechtes Verhalten

Entscheidend für alle wirtschaftlichen Überlegungen sei das zugrunde liegende Menschenbild. Dass der Mensch sich selbst verwirklichen muss, ist vielen Menschen noch gar nicht eingefallen. Über lebenslanges Lernen zu reden, sei meist zynisch (!). Der Trend gehe ohnehin von einer guten Beschäftigung zum schlechten Job. Der Anteil selbständig, aber prekär Beschäftigter steige an (Stichwort: Gig economy).

Am glücklichsten seien Norweger vor Dänen, Isländern und Schweizern. Die USA seien auf Position 14, Deutschland 16, Singapur 39 und China 79 (Quelle: World Happiness Report). Dass Glück mehr ist als nur Wohlstand, das sei offensichtlich, sogar für Amerikaner.

Man sollte nicht immer mehr Geld in MINT-Ausbildung stecken, sondern mehr Wert auf Empathie-Berufe legen wie Ökobauer, Sozialarbeiter und Musiker. Anstatt für Noten sollte man für intrinsische Werte lernen. Auf die Herzensbildung käme es an. Das Internet vernichte urbanes Leben. Es müsse nicht alles perfekt sein. Vor allem sollte man nicht die Leute ruinieren, die von der Seele etwas verstehen, nämlich Geistliche und Künstler. Schon Robert Musil (1880-1942) habe gesagt, logisches Denken schadet der Seele.

Probleme und Lösungen

Alle reden von Lösungen, nur Philosophen und Künstler nicht. Einige Probleme gibt Precht schon zu, die nicht von der Digitalisierung verursacht wurden. Dass es in Deutschland im Jahre 2017 über 3.000 Verkehrstote gab und über 400.000 Verletzte im Straßenverkehr, sollten wir nicht einfach hinnehmen. Ihnen standen 337 Morde gegenüber. Hierzu müssen auch technische Lösungen gesucht werden. In der von der EU verabschiedeten neuen Datenschutzverordnung (DSGVO)  sieht er einen ersten Schritt zur Eindämmung der GAFAs.

Die Künstliche Intelligenz (KI) und das Internet der Dinge (IoT) könnten zu neuen Geschäftsmodellen führen, auch für Europäer. Wenn wir dank des Einsatzes von Robotern wieder Fertigungsaufgaben zurück nach Deutschland verlagern, kann dies in Asien und Osteuropa Ängste verursachen und eventuell neue Migrationsströme auslösen. Es sei denn, dass neue Aufgaben oder Geschäfte hinzukommen. Die Vorstellung, dass es ein fest vorgegebener Kuchen ist, der immer nur neuaufgeteilt wird, scheint auch bei Precht vorzuherrschen. Selbst wenn es Precht (und vielen linken Publizisten) entgangen zu sein scheint, ist dies aber glücklicherweise nicht der Fall.

Schließlich hätten Politiker die Aufgabe, das Menschenbild der Aufklärung zu retten gegen Algorithmen und Maschinen. Der Staat müsse eine Grundversorgung anbieten. Außerdem seien Open-Source-Projekte erforderlich, die der Wiederbelebung einer Almende-Wirtschaft dienen. So und ähnlich träumen heute viele. Lassen wir sie doch weiterträumen!

Donnerstag, 6. Dezember 2018

Von Stephen Hawking zu Blaise Pascal – eine theologisch angefärbte Diskussion

Hartmut Wedekinds Beitrag in seinem Blog über Stephen Hawking löste in meinem Freundeskreis eine Diskussion aus. Ich möchte sie gekürzt wiedergeben.

Zunächst ergänzte Wedekind seinen Blog-Eintrag in einer Mail wie folgt: Der Vatikan hat den Urknall auch als Schöpfung eines Schöpfergottes bezeichnet, was quantenmechanisch nach Hawking nicht stimmt. Sein letztes Buch ist absolut lesenswert. Der Urknall entstand aus dem Nichts. Man hat Hawking aber vor Jahren in allen Ehren im Vatikan empfangen und nicht mehr in den päpstlichen Bann gestellt. Insofern lernte der Vatikan hinzu. Mit der Quantentheorie setzt sich der Vatikan nicht auseinander. Das kann er auch gar nicht, obwohl der Belgier Lemaitre, der den Urknall entdeckt hat, Jesuit war. Die Aufklärung bricht seit Galileo wie ein Wackerstein auf den Vatikan ein. Der Vatikan aber unterliegt regelmäßig (Kopernikus, Galilei, Keppler, und jetzt Hawking) und den Kant hat der Vatikan auch nicht kapiert. So gesehen nehmen die Blamagen kein Ende. Bloß keiner redet mehr darüber, weil der Vatikan erkenntnistheoretisch unerheblich geworden ist.

Hans Diel (HD): Hier nur einige Bemerkungen zu Wedekinds Position.

-    Dass die Religionen bei wissenschaftlichen Fragen besser die größere Kompetenz der entsprechenden Wissenschaftler anerkennen sollten, ist eine Erkenntnis, für die man keine Erkenntnistheoretiker benötigt.

-    Dass Naturwissenschaftler nicht unbedingt die größere Kompetenz bei metaphysischen und ethischen Fragen haben, ist zumindest meine Erkenntnis.

-    Dass sowohl der Vatikan als auch Hawking, erkenntnistheoretisch unerheblich sind, halte ich für einen Fakt. (Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht kundig bin, welche Erkenntnisse der Erkenntnistheoretiker und welche Erkenntnistheoretiker erheblich sind.)

-    Dass die Theorie, dass der Urknall NICHT aus dem Nichts entstanden ist, die WISSENSCHAFTLICH plausiblere Theorie ist, ist womöglich eine sinnvolle Erkenntnis für einen Erkenntnistheoretiker. Klar ist aber auch, dass jegliche Theorie bezüglich "was war vor dem (derzeit angenommenen) Urknall?" nur zu einer (unendlichen) Folge von Urknall-Minus-1-, Urknall-Minus-2-, ....Theorien führt.

Es macht durchaus Sinn, wenn sich Physiker Gedanken machen zu der Frage, was  könnte der Urknall-1 gewesen sein − genauer: Gibt es eine physikalisch sinnvolle Theorie, die erklärt, woraus der derzeit angenommenen Urknall entstanden sein KÖNNTE? Dazu haben einige Physiker Theorien veröffentlicht. Ohne Hawkings Theorie genau zu kennen, glaube ich nicht, dass seine Theorie fundierter ist als die, die ich bisher vernommen habe. Ich vermute, dass Hawking sich auch nicht zu der metaphysischen (oder erkenntnistheoretischen?) Frage geäußert hat, was am Ende (Anfang) der Folge Urknall-1, Urknall-2, .... war und ob diese Folge endlich ist (i.e., ob am Anfang das Nichts war). Zu dieser Frage gestehe ich dem Vatikan genau so viel Kompetenz zu wie Hawking.

Im Übrigen verehre ich Einstein als Physiker, selbst da wo er widerlegt wurde. Für mich ist er der Größte. Zu Fragen, die nicht die Physik betreffen, ist für mich Einsteins Meinung nicht interessanter als die von Heisenberg, Dürr (einem Schüler Heisenbergs), Gödel (einem Freund Einsteins), Hawking, Penrose oder Hilbert.

Peter Hiemann (PH) Ich habe Hartmut Wedekinds Blog-Eintrag wie folgt kommentiert: Einstein äußert sich klar in einem seiner ganz späten Briefe (1954 an den jüdischen, deutsch-amerikanischen Religionsphilosophen Eric(h) Gutkind), in dem er sich ein Jahr vor seinem Tod explizit vom Begriff „Gott“ und der Bibel distanzierte: „Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger aber doch reichlich primitiver Legenden. Keine noch so feinsinnige Auslegung kann (für mich) etwas daran ändern.“

Auch das Judentum kommt in dem Brief nicht gut weg: „Für mich ist die unverfälschte jüdische Religion wie alle anderen Religionen eine Incarnation des primitiven Aberglaubens. Und das jüdische Volk, zu dem ich gerne gehöre und mit dessen Mentalität ich tief verwachsen bin, hat für mich doch keine andersartige Originalität als alle anderen Völker. Soweit meine Erfahrung reicht ist es auch um nichts besser als andere menschliche Gruppen wenn es auch durch Mangel an Macht gegen die schlimmsten Auswüchse gesichert ist. Somit kann ich nichts ‘Auserwähltes‘ an ihm wahrnehmen.“

Hartmut Wedekind reflektierte meinen Hinweis auf Einstein: "Schönen Dank. Der späte Sinneswandel eines Albert Einstein war mir nicht bekannt. Wenig überrascht hat mich im Wikipedia-Beitrag für Georges Lemaitre, Jesuit und einer der Entdecker des Urknalls, die folgende Bemerkung: „Auf einer Tagung im November 1951 akzeptierte die Päpstliche Akademie der Wissenschaften Lemaîtres Theorie. Papst Pius XII. führte in einem abschließenden Vortrag aus, der mit dem Urknall zeitlich festlegbare Anfang der Welt sei einem göttlichen Schöpfungsakt entsprungen.“ Bei Hawking können wir nachlesen, dass diese Auffassung nicht haltbar ist. Wie so oft scheint die Kirche sich in kosmologischen Fragen wieder einmal zu irren. Vielleicht dauert es wie im Falle Galilei wieder 300 Jahre, bis man aus einem mythologischen Traum erwacht. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, ist ein bekanntes deutsches Sprichwort." Soweit Wedekind.

Ich möchte noch klarstellen: Ich nehme unterschiedliche religiöse Vorstellungen zur Kenntnis. Ich halte jedoch eine fortlaufende Kommunikation zwischen Gläubigen und Ungläubigen für gemeinschaftlich 'sinnlos', weil sie auf beiden Seiten nicht zu Erkenntnis beiträgt. In diesem Sinn halte ich auch nichts vom Begriff 'Verehrung'. Kommunikation funktioniert nur auf der Basis, dass Vorstellungen 'respektiert' werden, und wenn es möglich ist, 'kooperierende' Gedanken ausgetauscht werden (Niklas Luhmann: Systemtheorie).

Bertal Dresen (BD): Ich habe folgenden Kommentar zu Wedekinds Blog-Beitrag hinterlassen: Viele Wissenschaftler wehren sich dagegen, wenn man sie als Atheisten bezeichnet. Damit unterstelle man ihnen, etwas zu wissen, was sie nicht wissen können. Sie bevorzugen die Bezeichnung Agnostiker. Andere wiederum bezeichnen dies als eine nicht akzeptable Ausrede. Man kann sich doch nicht ein Leben lang dumm stellen, um sich ja nicht zu einer Entscheidung durchringen zu müssen. Blaise Pascal (1623-1662) meinte, es sei die bessere Wette an Gott zu glauben. Der zu erwartende Gewinn sei dann größer als der zu erwartende Verlust.

PH: Blaise Pascal unterstellte, dass alle Menschen wetten müssen, ob es Gott gibt oder ob es ihn nicht gibt: "Es muß gewettet werden, das ist nicht freiwillig, ihr seid einmal im Spiel und nicht wetten, daß Gott ist, heißt wetten, daß er nicht ist. Was wollt ihr also wählen? [...] Ihr habt zwei Dinge zu verlieren, die Wahrheit und das Glück und zwei Dinge zu gewinnen, eure Vernunft und euern Willen, eure Erkenntniß und eure Seligkeit, und zwei Dinge hat eure Natur zu fliehen, den Irrthum und das Elend. Wette denn, daß er ist, ohne dich lange zu besinnen, deine Vernunft wird nicht mehr verletzt, wenn du das eine als wenn du das andre wählst, weil nun doch durchaus gewählt werden muß. Hiemit ist ein Punkt erledigt. Aber eure Seligkeit? Wir wollen Gewinn und Verlust abwägen, setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.“

Pascal irrte, dass man die von ihm vorgeschlagene Wette eingehen muss.  Dem Irrtum, nicht zu glauben, und das Risiko, Höllenqualen zu erleiden, muss man nicht 'fliehen', wenn man die Wette verweigert. Dagegen ist es meines Erachtens immer  gewinnbringend, sich ohne zu grosse Erwartungen auf die Suche nach real verifizierbaren  Erkenntnissen zu begeben. In diesem Fall stellt sich die Frage nach gottgegebener Schöpfung nicht. Pascal hatte übrigens recht: Wer nicht an Gott glaubt und Gott doch existiert, hat am Ende gar nichts verloren, wenn er sich weiterhin der Suche nach real verifizierbaren  Erkenntnissen widmet.

Mit anderen Worten: Wer Pascals Wette nicht eingeht, ist vielleicht ein Atheist, der den Glauben an Gottes Existenz verwirft, oder ein Agnostiker, der sich nicht für Gott entscheiden kann oder will. Für mich und viele Wissenschaftler ist der Begriff 'Gott' ohne Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie der Glaube an gottgegebene Schöpfung zu einer physikalischen Erkenntnis beitragen kann.

HD: Ich stimme Ihrem letzten Satz voll zu. Ich gehe sogar noch weiter. Ich meine, dass auch ein gottgläubiger Physiker bei der Suche nach physikalischen Erkenntnissen immer von der Prämisse ausgehen muss, dass Gott dabei keine Rolle spielt (höchstens bei der Erfindung der Gesetze). Andererseits, wenn ein Physiker beim Betrachten der Schönheit der physikalischen Gesetze, sich in seinem Gottesglauben bestärkt sieht (ich kenne viele, bei denen dies der Fall ist), ist er deshalb natürlich auch kein schlechterer Physiker.

BD: Bekanntlich ist Pascals Name unter Informatikern deshalb so vertraut, weil Niklaus Wirth einer der vielen von ihm erfundenen Programmiersprachen diesen Namen gab. Ich glaube, dass Wirth sich dabei weniger von den theologischen Gedanken Pascals leiten ließ, als von seinen mathematischen Leistungen. Wer kennt zum Beispiel nicht das Pascalsche Dreieck. Es ist die Darstellung von Zahlen so, dass sich daraus gewisse Gesetzmäßigkeiten leicht erkennen lassen. Leider starb Pascal bereits mit 39 Jahren. Er ist dennoch unvergessen.

Freitag, 30. November 2018

Deutschland und sein ostelbisches Trauma – von einem Briten erzählt

Zurzeit verfolgt die Welt, wie britische Politiker massiv den Interessen ihrer Jugend und ihrer Wirtschaft zuwiderhandeln. Der vor zwei Jahren aus Versehen und mit knapper Mehrheit zustanden gekommene BREXIT-Beschluss, den Boris Johnson und Nigel Farage mit Lügen herbeigeführt hatten, wird gerade durchgezogen. Der mühsam mit Brüssel ausgehandelte Scheidungsvertrag umfasst zwar über 500 Seiten. Er erklärt im Wesentlichen aber nur, dass alles zunächst so bleibt, wie es ist, Das meiste muss später geregelt werden. Früher hatten die Briten einmal den Ruf, die Dinge mit Vernunft und Realitätssinn anzugehen. Gefühle und Ideologien überließen sie gerne andern. In dieser Stimmung las ich die englische Ausgabe des Buchs Die kürzeste Geschichte Deutschlands (2018, 336 S.) von James Hawes (*1960). So wie Rheinländer und Bayern ist auch er sehr bemüht, Deutsche bzw. Deutschland nicht mit Preußen gleichzusetzen. Ein früherer Blog-Beitrag beleuchtete meine Sicht von Preußens Rolle.

Erstes Halbjahrtausend – Germanen (8 vor Chr. – 526 nach Chr.)

Über die Germanen gab es seit 500 vor Chr. die ersten Gerüchte und Erzählungen. Sie sollen wild und unzivilisiert sein. In ihrer Sprache hatte es gegenüber den Bewohnern des Mittelmeerraums eine Lautverschiebung gegeben (pater-father, frater-brother, labia-lip, usw.). Einen etwas präziseren Bericht gab Julius Caesar in seinem Gallischen Krieg. Er trieb einen germanischen Heerführer namens Ariovist, der mit seinen über 100.000 Gefolgsleuten in Gallien eingefallen war, nach einer vernichtenden Schlacht über den Rhein zurück. Später überschritt Caesar selbst den Rhein anhand einer Holzbrücke, konnte sich aber nicht festsetzen. 


Germanien nach Ptolemaeus-Karte

Die Schlacht im Teutoburger Wald (9 vor Chr.) hielt die Römer nicht davon ab, weitere Versuche zu machen, das Gebiet zwischen Rhein und Elbe unter Kontrolle zu bekommen. Der Erfolg blieb aus. Hawes vergleicht den Rhein mit der Sykes-Picot-Linie (wie sie Engländer und Franzosen im Nahen Osten zogen). Die Römer als Besatzer versuchten sie als Grenze zu erzwingen. Die Germanen dachten nicht daran, sich daran zu halten. Selbst ein so imposantes Bauwerk wie der Limes schreckte sie nicht ab. Händler überquerten ihn, Siedler sickerten durch. Die Römer selbst beschäftigten ganze Heerscharen von Germanen als Soldaten und Offiziere.

Ab dem Jahre 300 begann eine Migrationswelle, welche später die Bezeichnung Völkerwanderung erhielt. In Sprache und Sitten passte man sich den Römern an, da vorwiegend junge Männer beteiligt waren und nur wenige Frauen. Schließlich übernahm eine Auswanderergruppe auch die Verwaltung des römischen Reiches, nämlich Theodorich und die Ostgoten. Im Jahre 525 machten sie Ravenna zur Hauptstadt.

Zweites Halbjahrtausend – Reich der Franken (526-983)

Der germanische Stamm der Franken dachte nicht daran, auf Wanderschaft zu gehen. Sie blieben in der Gegend und lernten Latein. Sie vergrößerten jedoch ihr Siedlungsgebiet vom Niederrhein bis nach Paris. Im Jahre 754 kam Papst Stephan II. nach St. Denis (bei Paris) und salbte Pepin uns seine beiden minderjährigen Söhne. Einer von ihnen ging als Karl der Große (frz. Charlemagne, 747-814) in die Geschichte ein. Ab dem Jahre 800 befasste er sich mit der Neugründung des Römischen Kaiserreiches. Vor allem aber bemühte er sich, es von der Rheingrenze bis zur Elbe auszudehnen. Auch die Bayern band er ein.

Karls Nachfolger überquerten auch die Elbe. Sie wurden jedoch im Jahre 983 durch einen Aufstand der Slawen (auch Wenden genannt) zurückgedrängt. Im Jahre 1147 rief dann Bernhard von Clairvaux, der Gründer des Zisterzienser-Ordens, zu einem Kreuzzug gegen die Wenden auf. Karls berühmtester Nachfolger war Friedrich Barbarossa (1122-1190), der zur Sagengestalt wurde.

Drittes Halbjahrtausend – ein Kampf um Deutschland  (983-1525)

Im Jahre 1226 erließ Friedrich II. (1194-1250), Barbarossas Enkel, die Goldene Bulle von Rimini. Darin übertrug er dem Deutschen Orden (engl. teutonic knights) die Missionierung und Erschließung  des Gebietes östlich der Elbe. Zusammen mit dem Händlerverband Hanse verbreiteten sie deutschen Einfluss und deutsche Siedler über das gesamte Baltikum.

In dem zum Deutschen Orden gehörenden Gebiet lag auch die Gegend des späteren Ostpreußens. Hier erlitten im Jahre 1410 die Ordensritter eine Niederlage (bei Tannenberg), von der sie sich nur mühsam erholten. Der Anführer der Slawen war Jan Zizka, der später Jan Hus in Prag unterstützte. Ostpreußen blieb zwar Ordensbesitz, kam jedoch unter die Oberhoheit der polnischen Könige. Von der Elbe bis zum Baltischen Meerbusen herrschte eine deutsche Oberschicht als Gutsbesitzer über verschiedene slawische Ethnien. Ihre Ideologie war die eines adeligen Junkertums. Die deutschen Herren mussten das Baltikum erst nach den beiden Weltkriegen verlassen. Ihre Herrenhäuser wurden teilweise restauriert und werden heute von Touristen bestaunt.

Viertes Halbjahrtausend – Deutschlands zwei Wege (1525- heute)

Durch Luthers Reformation wurde Deutschland zweigeteilt. Luther verkündete, dass nur Gottes Gnade die Erlösung bringt und nicht die guten Werke eines Menschen. Die Fürsten sahen eine Chance, an das Geld und den Besitz der römischen Kirche zu gelangen. Luther sah, dass ihm die Fürsten nützlich sein würden und schlug sich auf ihre Seite im Bauernaufstand.

Der Großmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, säkularisierte 1525 das Ordensgebiet und nannte sich fortan Herzog von Preußen. Später erbten seine Nachfahren auch die Mark Brandenburg und den damit verbundenen Kurfürstentitel. Obwohl im Augsburger Frieden von 1555 die Frage der Religion zugunsten der Fürsten entschieden worden war (lat. cuius regio, eius religio). gab sich Kaiser Ferdinand damit nicht zufrieden. Er beauftragte seine Heerführer mit der gewaltsamen Rekatholisierung. Es kam 1618 zum 30-jährigen Krieg. Als des Kaisers Söldnerführer (Tilly, Wallenstein) zu viel Erfolg zu haben schienen, schaltete sich das katholische Frankreich und das protestantische Schweden ein. Es kam 1648 zum Friedensschluss, allerdings war Deutschland nur noch ein Trümmerfeld mit halbierter Bevölkerung.

Auf dem früheren Reichsgebiet entstanden 1800 Kleinstaaten, 50 freie Städte und 60 kirchliche Besitztümer. Eine verbindende staatliche Einheit existierte kaum mehr. Es herrschte die Willkür  (engl. failed state). Gleichzeitig entstand in Frankreich ein starkes Staatsgebilde, das 72 Jahre lang von einer Person (Ludwig XIV.) beherrscht wurde. In Preußen konnte sich Kurfürst Friedrich Wilhelm 1657 aus der polnischen Lehensabhängigkeit lösen. Da Preußen außerhalb der Reichsgrenzen lag, war er dort nunmehr ein souveräner Herrscher. Dies nutzte sein Sohn Kurfürst Friedrich III., um sich 1701 selbst als Friedrich I. zum König in Preußen zu krönen.

Überall in Deutschland strahlte ein Jahrhundert lang der Einfluss Frankreichs in vielfältiger Weise aus. Man baute französisch und sprach französisch. Preußens König Friedrich II. (genannt der Große) traf sich mit Voltaire. Nach der Revolution von 1789 kam der Korse Napoléon in Frankreich an die Macht. Er besiegte die Preußen bei Jena und Auerstedt vernichtend. Er hätte es von der Landkarte verschwinden lassen, wenn nicht der russische Zar sich 1807 im Frieden von Tilsit für sein Überleben eingesetzt hätte. Es wurde auf das Gebiet östlich der Elbe beschnitten und wurde ein Satrap Russlands.

Preußen war ein Staat, in dem das Militär einen hohen Stellenwert hatte. ‚Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt‘. So soll es der Marquis de Mirabeau ausgedrückt haben. Die ostelbischen Junker sahen in der Armee ihre Aufstiegsmöglichkeiten. Auch beim Wiener Kongress von 1815 erhielt Preußen die Unterstützung des russischen Zaren. Auf Wunsch Englands erhielt es auch wieder Besitz am Rhein. Man wollte ein Bollwerk gegen Frankreich schaffen. Preußen erhielt dadurch nicht nur eine starke katholische Volksgruppe, sondern auch ein Gebiet, das sich industriell entwickelte. Für Preußen wie für das habsburgische Österreich gab es neben Deutschen stets noch weitere Volksgruppen, die es beherrschte. Ein deutsches Nationalbewusstsein war daher für beide ein Problem.

Preußens Kanzler Otto von Bismarck erkannte dies und strebte eine spezielle, d.h. preußische Lösung an. Wie er 1862 dem englischen Premier Benjamin Disraeli anvertraute, müsse er Österreich mit Gewalt aus Deutschland hinausdrängen und die deutschen Kleinstaaten an Preußens Leine nehmen. Für letzteres brauche er einen Krieg mit Frankreich. Im Jahre 1871 war es soweit. Die Frage war nur, nennt sich Wilhelm I. deutscher Kaiser oder Kaiser in Deutschland. Jetzt war ganz Deutschland in den Händen einer ostelbischen Macht. Bismarck wollte einen protestantischen Nationalstaat errichten, was im Rheinland zum Kulturkampf führte. Im Jahre 1879 vollzog er eine Kehrtwende und verbündete sich mit Österreich, 1880 streckte er Fühler nach St. Petersburg aus. Kaiser Wilhelm II. wollte mit England konkurrieren und träumte von überseeischen Kolonien und einer Flotte. Die ostelbischen Junker zogen jedoch den Ausbau des Heeres vor.

Wilhelms militärischer Berater Helmuth Graf von Moltke meine 1912: ‚Je früher wir Russland angreifen, desto besser‘. Nach dem Attentat von Sarajewo erteilte der deutsche Kaiser Österreich eine Blankovollmacht. Deutschland war nahe dran, den Ersten Weltkrieg zu gewinnen. Es hatte die besseren Waffen und bessere Heerführer (Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff). Im Frieden von Brest-Litowsk wurde Preußen um große Teile Litauens, Lettlands und Polens erweitert. Ludendorff wollte die Bolschewiken vertreiben und den Zar als Vasall Preußens wiedereinsetzen. Dummerweise hatte die Heeresleitung nicht mit den Amerikanern gerechnet, die sich durch die deutschen U-Boote provoziert fühlten. Außerdem brachten die Engländer neue Tanks an die Front bei Amiens, die im August die deutschen Linien durchbrachen.

In Weimar gaben sich die Parlamentarier (angeführt von Hugo Preuss) eine echte demokratische Verfassung, noch ehe der Friedensvertrag von Versailles vorlag. Sozialisten und Zentrum versuchten es, aus der schwierigen Situation das Beste zu machen. Der preußische Adel kochte vor Wut. Sie konnten viele ihrer Söhne auf den verbliebenen Offiziersposten der Reichswehr unterbringen. Man testete neue Waffen heimlich in Russland, zusammen mit der Roten Armee. Die Nachkommen der Ordensritter operierten als Freikorps im ganzen Baltikum. Im Jahre 1920 eroberten sie vorübergehend die Stadt Riga. Politisch sammelte man sich in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), angeführt von Alfred Hugenberg und Franz von Papen.


Ergebnisse für Reichstagstagswahlen 1930 und 1932

Mit Hilfe der DNVP kam Hitler an die Macht. Zusammen erhielten DNVP und Nazis 1932 über 60% der Stimmen, allerdings nur in Ostdeutschland. Im Westen und Süden Deutschland, wo die Bevölkerung vorwiegend katholisch ist, kam Hitler nie über 35% (siehe Grafik). Dem Ermächtigungsgesetz, das Hitler zur Festigung seiner Diktatur nutzte, stimmte das katholische Zentrum zu − aus Angst als Verräter hingestellt zu werden, meint Hawes.


Preußische Heldentradition 1933

Nur die Nicht-Kenner preußischer Geschichte wunderten sich, als Hitler 1939 einen Vertrag mit Stalin schloss, der zur dritten Aufteilung Polens führte. Dennoch griff Hitler zwei Jahre später Russland an, wobei er sich kräftig übernahm. Nachdem er zuerst Hunderttausende nicht für lebenswert erachtete deutschstämmige Bürger getötet hatte, richtete sich sein darwinistischer Groll vor allem gegen Millionen von Juden in Europa. Das wiederum rief die Amerikaner auf den Plan. Sein Reich war untergegangen in dem Moment, als sich Amerikaner und Russen 1945 in Torgau an der Elbe die Hände reichten.

Konrad Adenauer (1876-1967), der während der Zeit der Weimarer Republik das Rheinland von Preußen trennen wollte, erreichte für die Bundesrepublik, die nur die Gebiete westlich der Elbe umfasste, eine eindeutige Bindung an den Westen. Bei der Währungsreform 1948 wurden alle Schulden Deutschlands auf einen Schlag gestrichen, Die Wirtschaft konnte sich erholen und wieder Güter aller Art produzieren.

Dort wo einst Luther und die Junker lebten, entstand die DDR, die sich als das bessere Deutschland auffasste. Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse und der Vietnamkrieg trieben Teile der westdeutschen Jugend auf die Straße. Die von der Roten Armeefraktion (RAF) verursachten Morde führten zum Deutschen Herbst des Jahres 1977. Die Sympathie weiter Bevölkerungskreise für die RAF war ebenso störend wie die Hilfe durch den Geheimdienst der DDR (Stasi).

Helmut Schmidt (1918-2015), ein von der SPD gestellter Kanzler, setzte den NATO-Doppelbeschluss durch und die Installation von Mittelstrecken-Raketen (Pershing). Es folgte 1989 der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung. ‚Entweder kommt die DM zu uns oder wir gehen zu Ihr‘, skandierten die Ostdeutschen. Der Umtausch der Ostmark erfolgte im Verhältnis 1:1 mit katastrophalen Folgen für die DDR-Wirtschaft. Den Franzosen zuliebe führte Helmut Kohl den Euro ein. Der Bundestag wählte mit knapper Mehrheit Berlin zur neuen Hauptstadt. Da die Hauptstadt von den süddeutschen Bundesländern mit Milliardenbeträgen subventioniert wird, blüht sie auf. Touristen und Unternehmensgründer fühlen sich angezogen.

Das Land östlich der Elbe verliert immer mehr Menschen. Eigentlich möchte niemand dort leben. Anstatt DNVP und Nazis wählt man jetzt Linke und AfD. Die Milliarden, die als Hilfe flossen, können daran nichts ändern. Es fehle das Vertrauen in eine demokratische Zukunft. Die Staaten Osteuropas, denen weniger Hilfe zufließt als der ehemaligen DDR, staunen nur. Warum hilft ihnen denn niemand?

Nachgedanken zum Buch

Am Schluss des Buches wundert sich Hawes doch darüber, dass er mit seinem Schema nicht alles erklären kann. Als er im Jahre 2017 sein Buch abschließt, kandidiert ein katholischer Sozialdemokrat aus dem äußersten Westen (Martin Schulz) gegen eine protestantische Pfarrerstochter aus dem Osten (Angela Merkel).

Überhaupt fiel so Manches der Kürze zum Opfer. Wo bleiben Johann Gottfried Herder (in Mohrungen geboren, später in Riga und Weimar tätig) und Immanuel Kant (aus Königsberg)? Was ist mit den Gebrüdern Humboldt (aus Berlin)? Wer kennt nicht den Arzt Rudolf Virchow (aus Hinterpommern)? Was ist mit Günter Grass (aus Danzig)? Ostelbien ist zweifellos ein Teil Deutschlands, sowohl in der Geschichte wie auch heute. Ich halte es sogar für einen sehr interessanten und wichtigen Teil.

Mittwoch, 21. November 2018

Idealvorstellung von der Gleichheit aller Menschen – europäisch und national betrachtet

Seit der Französischen Revolution kennt Europa das Ideal der Gleichheit aller Menschen. Auch von Karl Marx (1818-1883) bis zu Thomas Piketty (*1971) schwärmten europäische Linke davon. Sie besingen sie in ihren Liedern, dafür gehen sie auf die Straße. Umgekehrt geißeln sie jedwede Ungleichheit, die bereits herrscht oder sich gerade ausbreitet. Dass es ungleiche Veranlagungen und Begabungen – nicht nur im Sportlichen – gibt, wird zwar anerkannt und akzeptiert. Dennoch sollen alle Menschen einen gleichen Start bekommen und gleich steile und gleich lange Wettkampfstrecken absolvieren. So verkünden es linke Utopisten. Wenn dann trotzdem ungleiche Ergebnisse herauskommen, möchte man diese nachträglich korrigieren. Diese Gedanken wurden zwar bisher nicht zu olympischen Prinzipien erhoben, sie sind aber das A und O jeder politischen oder gesellschaftlichen Diskussion geworden – zumindest in Europa.

Ökonomische Gegebenheiten in Europa

Dass sich Europa wirtschaftlich von anderen Teilen der Welt absetzt, ist hinreichend bekannt. Dies ist der Hauptgrund für die Migrationsströme sowohl aus Afrika wie aus Asien. Dabei ist Europa alles andere als ein homogener Block. Die Unterschiede zwischen Luxemburg und Bulgarien betragen, was das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf betrifft, mehr als eine Größenordnung. Betrachtet man alle Länder der Welt, so treten noch weit größere Unterschiede zu Tage. So wünschenswert eine Angleichung auch sein mag, niemand traut sich nach dem Untergang des kommunistischen Abenteuers, eine systematische, geschweige denn gewaltsame Angleichung zu fordern. Besungen wird aber weiterhin die Gleichheit aller Menschen, zusammen mit Freiheit und Brüderlichkeit.

Europäische Wirtschaftsdaten 2017

Das BIP ist der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden. Das Einkommen umfasst die in einem Jahr den natürlichen Personen zufließenden finanziellen Leistungen, auch Verdienst genannt. Das Vermögen ist, in Geld ausgedrückt, der Wert des einer Person gehörenden Eigentums.

In seinem Buch Das Märchen vom reichen Land (2018, 256 S.) fordert Daniel Stelter (*1964) dazu auf, anstatt des Einkommens das Vermögen pro Kopf der Bevölkerung zu verwenden, wenn Vergleiche zwischen Ländern angestellt werden. Das Einkommen sei nur eine Flussgröße, die Ergebnisse eines einzigen Jahres festhalte. Dem gegenüber sei das Vermögen eine Bestandsgröße, die das Ergebnis eines längeren Zeitraums ausdrücke. Sowohl Deutschland wie Schweden gehören dann nämlich zu den armen Ländern Europas, weit hinter Frankreich, Italien und Spanien. Am deutlichsten wird diese Aussage, wenn man anstatt der Durchschnittswerte (Spalte 3 der Tabelle) die Medianwerte (Spalte 4) vergleicht, Selbst Griechenland übertrifft uns dann. In der Statistik ist der Median (auch Zentralwert genannt) derjenige Wert, der genau in der Mitte steht, wenn man die Werte der Größe nach sortiert.

Ökonomische Gegebenheiten in Deutschland

Deutschland ist Europas stärkste Wirtschaft. Unser Grundgesetz (Artikel 72) erteilt der Politik den Auftrag, für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu sorgen. Von 1949 bis 1994 wurde sogar von der Gleichheit der Lebensverhältnisse gesprochen. Man sah ein, dass diese Forderung nicht realisierbar war.

Deutsche Wirtschaftsdaten 2017

Die Unterschiede sind in Deutschland geringer als innerhalb Europas. Es gibt jedoch ein klares Süd-Nord- und West-Ost-Gefälle. Von der Sonderrolle Hamburgs abgesehen, liegen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen an der Spitze. Es sind dies auch die Bundesländer, die vom so genannten Länderfinanzausgleich belastet werden. Wie künstlich und umstritten dieser Ausgleich ist, zeigt sich darin, dass das Bundesverfassungsgericht (BVG) sich schon mehrmals damit befassen musste. Zuletzt wurden Bayern und Hessen im Jahre 2013 mit einer Klage anhängig, die sie 2017 zurückzogen. Sie hätten hinreichende Verbesserungen auf dem Verhandlungswege erzielt.

Gerade in Deutschland wird vehement gegen den europäischen Finanzausgleich argumentiert. Das Ausgleichsverbot (engl. no bail-out) des Vertrags von Maastricht wird immer wieder betont. Dass diese Front bereits Bruchstellen hat, zeigt ein Zitat, das Günther Oettinger, dem deutschen EU-Kommissar, nachgesagt wird. ‚Europa ist mir wichtig, nicht nur Mecklenburg und Saarland‘.

Einkommens-Spreizung nach Berufen

Die Unterschiede der Individuen in Veranlagung und Begabung kommt in einer freien Wirtschaft in den frei gewählten Berufen zum Ausdruck. Nur sozialistische Utopisten forderten, dass alle Berufe vom Staat vorgegeben und als gleichwertig anzusehen seien. Das führte zu perversen Situationen, selbst in Westberlin, wo in den 1950er Jahren Universitätsprofessoren und Putzfrauen sich um gleichen Einfluss und gleiche Vergütung rangelten. Diese Art von politischem Schmierentheater ist nach dem Misserfolg des DDR-Experiments in Vergessenheit geraten. Sie gehört mit Recht in den Mülleimer der Geschichte.


Vergleich der Einkommen nach Berufen

In jeder dieser Gruppen gibt es weitere Differenzierungen. So liegen bei den Ärzten Radiologen weit vor den Urologen. In dem Bereich von Piloten und Ärzten liegen auch ähnlich angesehene und einflussreiche Berufe wie Ingenieur, Architekt oder Anwalt. Künstler oder Spitzensportler bilden eh eine Klasse für sich. Da kommt es zu immer neuen Exzessen.

Fachkräfte aus dem Ausland

In Deutschland hört man seit Jahren ein allgemeines Jammern über den Mangel an Fachkräften. Manche von uns hatten gehofft, dass die ungeplante massenhafte Einwanderung seit 2015 auch dieses Problem lindern würde. Inzwischen ist man klüger. Es hat sich herausgestellt, dass eine unkontrollierte Einwanderung als Erstes unsere Sozialsysteme belastet. Sie wirkt sich ferner auf die gefühlte oder tatsächliche innere Sicherheit aus. Man will jetzt endlich eine gesetzliche Regelung herbeiführen, die Einwanderung erlaubt, ohne das Asylrecht in Anspruch zu nehmen.

Offensichtlich sind Erfolge da am leichtesten, wo die fachlichen und sprachlichen Anforderungen gering sind. Das ist beim Postverteilen und Kraftfahrzeugfahren gegeben, und auch bei Gaststättengehilfen und Pflegekräften. Die Attraktion Deutschlands für Ingenieure und Informatiker dagegen ist immer noch gering. Hier sind die USA und Kanada weiterhin starke Magnete, selbst für Deutsche.

Übrigens ist Japan, dessen Bevölkerung auch stagniert und altert, gezwungen, einen andern Weg zu gehen. Statt auf Zuwanderung setzt man auf Automatisierung. In der Altenpflege sieht man heute schon Roboter bei Tätigkeiten, die bei uns Frauen aus Rumänien und Polen machen.

Gewinner und Abgehängte von Wirtschaft und Gesellschaft

Wem es als Deutschstämmiger oder als Einwanderer gelingt, eine attraktive und gut bezahlte Beschäftigung zu finden, fühlt sich als angekommen. Es muss außerdem eine Arbeit sein, die gute Perspektiven für die Zukunft besitzt. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg geht die gesellschaftliche Anerkennung einher.

Schafft es jemand nicht, wirtschaftlich Fuß zu fassen, oder bleibt man unter seinen Erwartungen, tritt sehr leicht das Gefühl auf, abgehängt zu sein. Obwohl dies in der heutigen Situation Deutschlands eher ein persönliches Versagen darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass die Schuld dafür sehr oft bei andern gesehen wird.

Wenn zum Beispiel ausländische Investoren deutsche Firmen übernehmen, kann es sein, dass ein Teil der sozialen Errungenschaften verloren geht. Daraus die Konsequenz zu ziehen, jedwede nicht-deutsche Investition zu verbieten, sehe ich als übertrieben an. Man muss dann damit rechnen, dass es deutschen Investoren im Ausland mit der gleichen Münze zurückgezahlt wird. Die internationale Verflechtung der Wirtschaft und der freie Fluss von Kapital bringen Vorteile, die wir nicht leichtfertig in Gefahr bringen sollten.

Moderne Medien tragen dazu bei, dass Bilder aus unserer Glitzer-Welt in vielen Teilen der Welt als Traumbilder verbreitet wären. Wer sich nicht in der Lage sieht, sich auf eine Wanderung von Tausenden Kilometern zu machen – wie die Hondurianer, die gerade in Tijuna ankommen – fühlt sich abgehängt und elend. Könnten wir doch mit den elektronischen Bildern gleich Einkaufsgutscheine verschicken, die aber nur vor Ort gültig sind.

Nachtrag vom 23.11.2018

Hinweisen möchte ich darauf, dass ich das Thema Gleichheit bereits im Jahre 2013 in diesem Blog behandelte. Anlass war ein Buch von Joseph Stieglitz. Ich setzte dessen Vorstellungen in Vergleich zu denen seines Landsmanns John Rawls, wobei ich Letzteren für den wichtigeren Autor halte.

Dieser Tage fiel mir ein Goethe-Gedichtlein in die Hände. Es muss aus der Zeit um 1818 stammen, dem Geburtsjahr von Karl Marx. Es heißt Égalité. Hier der Text: 

   Das Größte will man nicht erreichen,
   Man beneidet nur seinesgleichen;
   Der schlimmste Neidhart ist in der Welt,
   Der jeden für seinesgleichen hält.


PS. Alle Zahlen in den obigen Tabellen entstammen im Netz verfügbaren Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes.

Sonntag, 18. November 2018

Technologie und Ökonomie (Essay von Peter Hiemann)

Peter Hiemann macht sich sehr viele Gedanken über technische Systeme und wirtschaftliche Unternehmen. Anhand bekannter Beispiele versucht er dieses Mal den Unterschied klarzumachen zwischen gesellschaftlich nützlichen und daher wünschenswerten Systemen oder Unternehmen einerseits und schädlichen und daher kritisch zu beurteilenden Systemen oder Unternehmen andererseits. BlackRock und Facebook haben es ihm besonders angetan.

Zum ersten Mal für diesen Blog gibt Hiemann eine kurze Beschreibung des Buchungssystems Amadeus. Hiemann war in der Leitung dieses Projekts involviert, was zur Folge hatte, dass er seine beufliche Wirkungssphäre von Süddeutschland nach Südfrankreich verlegte. Es lag daher nahe, dass er für seinen Ruhestand die Ausläufer der Seealpen wählte. Die Stadt Grasse liegt genau zwischen Meer und Bergen, mit allen Attributen einer paradiesischen Landschaft.

Klicken Sie hier für den neuen Essay!

Donnerstag, 8. November 2018

Großbritannien, China und die Opiumkriege

In einem der letzten SPIEGEL-Hefte (40/2018) las ich eine Besprechung des soeben erschienenen historischen Romans ‚Gott der Barbaren‘ von Stephan Thome. Der Autor, Jahrgang 1972, heißt mit bürgerlichem Namen Stephan Schmitt und stammt aus Biedenkopf in Nordhessen. Er wohnt in Taiwan. Weniger der Preis von 18,99 Euro als die 720 Seiten hielten mich davon ab, das Buch sofort zu lesen. Inzwischen habe ich dies nachgeholt. Ich gebe hier zunächst nur den historischen Rahmen der Handlung wieder und stelle einige der Handelnden vor, soweit sie historisch belegt sind. Damit gehe ich auch ganz kurz auf die Romanhandlung ein. Sie steigert das, was an sich schon spannend und reichlich verworren war, und stellt einen Bezug zur deutschen Geschichte her.

Hongkong und der erste Opiumkrieg

Im Ersten Opiumkrieg (1839-1842) machte England den ersten Versuch, das China der Mandschu-Dynastie für den westlichen Handel zu öffnen. Unter Handel wurde vor allem der Import von Opium gesehen, das in Indien angebaut wurde. Englische Händler im Verband mit der Ostindienkompanie bedrängten das Parlament. Eine Flotte, bestehend aus 16 Kriegsschiffen (mit 500 Kanonen und 4000 Mann an Bord)  besetzte die Insel Hongkong als Operationsbasis. Die Briten besetzten außer Hongkong noch drei Häfen: Ningbo und Zhoushan am Jangtsekiang und Tianjin am Beihai. Ein in Tianjin abgeschlossener Vertrag, in dem China auf Hongkong verzichten und hohe Reparationen zahlen sollte, lehnte der Kaiser ab. Daraufhin setzten die Engländer den Krieg fort und eroberten Nanjing. Der dort 1842 abgeschlossene Vertrag gilt in China als der erste der ‚Ungleichen Verträge‘. Er verpflichtete die Chinesen zur Öffnung der Handelshäfen Kanton, Xiamen, Fuzhou, Shanghai und Ningbo für Ausländer, zur Duldung weitgehend unbeschränkten Handels mit Opium, zur Abtretung Hongkongs sowie zu Reparationszahlungen. Die Insel Hongkong (chinesisch für Duftender Hafen) wurde  erst im Jahr 1997 an China zurückgegeben. Seitdem ist es eine Sonderverwaltungszone unter Beibehaltung einer freien Marktwirtschaft und hoher innerer Autonomie.

Zweiter Opiumkrieg und Besetzung Bejings

Der Zweite Opiumkrieg (1856-1860) brach aus mit der Beschlagnahme eines unter englischer Flagge segelnden Schiffes, das Opium und andere Schmuggelware nach Kanton brachte. Als die vorwiegend chinesischen Besatzungsmitglieder von den Behörden nicht freigelassen wurden, erklärten die Briten den Krieg. Um die angebliche Hinrichtung eines französischen Missionars zu rächen, schloss sich Frankreich an. Im Grunde suchten beide Staaten eine Erweiterung ihrer Einflusssphäre in China.

Im Jahre 1857 wurde Kanton eingenommen und im Jahr darauf die Dagu-Festungen in der Nähe von Tianjin. Es kam zur Unterzeichnung des Vertrags von Tianjin, welcher gleichzeitig auch von Frankreich, Russland und den USA verhandelt wurde. Dieses Abkommen öffnete elf weitere Häfen für den Handel mit dem Westen. Als China zögerte, diesen zweiten der „Ungleichen Verträge“ anzuerkennen, rüsteten 1860 Briten und Franzosen zum Angriff auf Bejing. Beteiligt waren 11.000 Briten (zum großen Teil Inder) und 6.700 Franzosen. Die Truppen besetzten die Stadt und verwüsteten anschließend den Sommerpalast des Kaisers. Auch die Russen griffen ein, mit der Folge, dass China Gebiete in der Mandschurei, am Usuri und am Amur an das Zarenreich verlor. Als im darauf folgenden Jahr der Kaiser starb, übernahm Prinz Gong die Macht, zusammen mit der Kaiserwitwe Ci Xi. Diese hat China 42 Jahre lang regiert und trat vor allem während des Boxeraufstands 1899-1901 in Erscheinung. An seiner Niederschlagung war auch das deutsche Kaiserreich beteiligt.

Taiping-Aufstand
           
Genau zur gleichen Zeit, als China sich gegen britische und französische Angriffe zu wehren hatte, wurde es durch innere Unruhen erschüttert. Hóng Xiùquán (1814-1864), der aus einer bäuerlichen Familie der Provinz Guandong im Süden Chinas entstammte, war mehrmals bei den staatlichen Prüfungen durchgefallen. Er verfiel in geistige Wahnvorstellungen, während der er Visionen gehabt haben soll. Diese basierten auf Vorstellungen, auf die ihn ein deutscher protestantischer Theologe gebracht hatte, dessen Übersetzungen ins Chinesische er gelesen hatte. Hauptberuflich arbeitete er für ein britisches Unternehmen, das im Opiumhandel tätig war. Er gründete 1837 eine dem Christentum nahe stehende religiöse Gemeinschaft, die er ‚Großes Reich des Himmlischen Friedens’ (chinesisch: tàipíng tiānguó) nannte. Er selbst bezeichnete sich als ‚Himmlischer König’ (chinesisch: tiānwang) und jüngeren Bruder Jesu. Man verteilte Bibeln gratis und predigte die Zehn Gebote. Man zeigte keinerlei Toleranz gegen andere Glaubensbekenntnisse. Hong war ein Hakka und gehörte damit einer benachteiligten Volksgruppe an. Er wollte zunächst gegen die Mandschu-Herrscher kämpfen. 

Aufstandsgebiet der Taiping

Hans Magnus Enzensberger hat im SPIEGEL 3/2015 dem Taiping-Aufstand ein mehrseitiges Essay gewidmet. Die Überschrift lautete ‚Der vergessene Gottesstaat‘. Es sei einer der größten Bürgerkriege der Weltgeschichte gewesen. Der himmlische König habe sich wie später die Kommunistische Partei Chinas, der modernsten Techniken bedient, um seine  Ziele zu erreichen. Ich zitiere Enzensberger für einige Details:

Am kaiserlichen Hof wollte niemand etwas von solchen Innovationen wissen. Hong Xiuquan knüpfte zur Verbreitung seiner Botschaft ein engmaschiges Netz von Kurieren und gründete Druckereien, um Flugschriften und Anweisungen unter das Volk zu bringen. Für die Kranken ließ er Spitäler bauen. Um für den Nachschub zu sorgen, legte er Straßen an. Sogar den Bau von Eisenbahnen soll er geplant haben. … Obwohl Plünderungen ihnen verboten waren, fielen seine Truppen über die Dörfer her. Sie konfiszierten das Vieh und nahmen die Vorräte der widerspenstigen Bauern in Beschlag. Doch Beutezüge und Lösegeldzahlungen reichten nicht hin, um Hongs Kriegskasse zu füllen. Dazu war er auf Geschäfte mit fremden Waffenhändlern, Schmugglern, Abenteurern und Schiebern angewiesen. Und was die Frauen betraf: So streng er sie zum Gehorsam anhielt, so gern brauchte er sie als Hilfstruppen und setzte sie als Attentäterinnen ein. … Klar ist auch, dass das Reich der Taiping nicht von außen besiegt worden, sondern an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen ist. … Je erfolgreicher und selbstsicherer die Taiping anfangs waren, desto brüchiger wurde ihre Herrschaft. Ihr Anführer ernannte immer mehr Vizekönige, "Prinzen", "Minister" und "Gouverneure", die miteinander rivalisierten und ihm die Herrschaft streitig machten. Zerwürfnisse, Niederlagen und Hungersnöte häuften sich. Vetternwirtschaft, Bestechlichkeit, Gier und Grausamkeit der Kämpfer taten ein Übriges. Hong selbst zog sich von seinen Anhängern zurück und setzte sich über seine eigenen Regeln hinweg, indem er sich einen Harem von 88 Beischläferinnen hielt und einem absurden Luxus frönte.

Zwanzig bis dreißig Millionen Todesopfer soll diese  Erhebung gefordert haben, mehr als 600 Städte wurden von ihr eingenommen und achtzehn Provinzen beherrscht. So viele Menschen kamen ums Leben, dass die Kämpfe schließlich aus Mangel an Kämpfern endeten. Beim Lesen der Gräueltaten der Taiping-Rebellen hatte ich dieselbe Idee, die auch Enzensberger zum Ausdruck bringt. ‚Die Parallelen zum Dschihad des "Islamischen Staates", der sich heute zwischen dem Mittelmeer und Pakistan ein gewaltbereites Imperium zu errichten sucht, sind unübersehbar.‘ Ob man vom Zusammenbruch der Taiping-Bewegung auf das Ende des IS hoffen darf, sei dahingestellt.

Romanfiguren und andere

Dem Charakter eines Romans entsprechend sind in Thomes Buch mehrere Figuren sehr nuancenreich beschrienen. Einige davon sind historisch, andere nicht.

Der General Zeng Guofan (1811-1872) vertrat das alte China. Er stammte aus einer alten, nicht sehr wohlhabenden Familie der Provinz Hunan und hatte alle Prüfungen des Hofes bestanden. Er war Anhänger der konfuzianischen Lehre und liebte besonders die Schriften eines Dichters aus seiner Heimatprovinz. Er verfasste Gedichte und philosophische Essays. Als die langhaarigen Anhänger Hongs, die dem Gott der Barbaren huldigen und die Ahnentafeln zerstörten, in die Provinz Hunan einfielen, organisierte er den Widerstand. Mit seiner halb-privaten Hunan-Armee befreite er die Hauptstadt Changsha. Anschließend belagerte er die Stadt Anqing am Jangtsekiang und verhinderte das weitere Vordringen der Aufständischen nach Westen. Ab dem Jahre 1860 belagerte er Nanjing mit 20.000 Soldaten. Die Belagerung dauerte vier Jahre lang (bis Juli 1864) und bereitete der Taiping-Bewegung ein blutiges Ende.

Der stets  im Namen der Königin Victoria und des Parlaments auftretende Brite war Lord Elgin (1811-1863). Sein voller Name lautete James Bruce, 8. Earl of Elgin und 12. Earl of Kincardine. Sein Vater hatte die Friese der Akropolis aus Athen ins Britische Museum nach London gebracht. Lord Elgin verkörperte in China den englischen adeligen Diplomaten, der stets langfristigere Ziele im Kopf hatte als die Generäle ihrer Majestät. Als Anhänger des Philosophen Hegel sah er sich als ‚Weltgeist auf dem Wasser‘. Eigentlich träumte er stets von seinem schottischen Landgut und seiner Frau, bei denen er viel lieber sein wollte als im verworrenen China. Dass englische Missionare in Hongs Theologie eine Frühform des Christentums, den Arianismus, entdeckten, steigerte die politische Verwirrung.

Die folgende Person ist frei erfunden. Sie heißt Philipp Johann Neukamp. Vielleicht wurde sie eingefügt, um den Stoff für deutsche Leser interessanter zu machen. Jedenfalls stellt er einen Bezug zur deutschen Geschichte her. Er hatte in Berlin mit Robert Blum (1807-1848) zusammengearbeitet. Blum war ein prominenter Abgeordneter des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments, der 1848 in Wien standrechtlich erschossen wurde. Im Auftrage der Basler Mission ging Neukamp nach Hongkong. Hier lernte er Vertreter der Taiping-Rebellion kennen. Mehrere Versuche, nach Nanjing zu gelangen, schlugen fehl. Als er es schließlich geschafft hatte, wurde er dort sehr bewundert und verehrt. Kurz vor der Eroberung Nanjings gelang es ihm, der Belagerung zu entkommen und nach Amerika zu fliehen.

Wen ich in dem Buch erwartet habe, aber nur in einem Nebensatz erwähnt fand, war Charles George Gordon (1833-1885). Er hatte sich bereits im Krimkrieg gegen die Türkei ausgezeichnet. In China leitete er das Söldnerheer, das zuerst die Stadt Shanghai gegen einen Angriff der Taiping-Rebellen erfolgreich verteidigte. Da das offizielle England sich neutral verhielt, zog Gordon mit 4.000 indischen und chinesischen Söldnern in Nanjing ein. Bekanntlich übernahm Gordon viel später nochmals eine riskante Mission, als er 1885 im Sudan gegen den Aufstand des Mahdi kämpfte und in Karthum sein Leben verlor.

Schlussgedanken

Zweifellos gelingt es Thome den vielen politischen, sozialen, religiösen und weltanschaulichen Themen und Überzeugungen, die hier zur Diskussion standen, einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Wir wissen immer noch viel zu wenig über den langen Weg, den China ging, bis es zu seiner heutigen Rolle in der Welt fand. Chinesen sind sich dessen durchaus bewusst. Dass auch bei uns ein Interesse an romanhaften Darstellungen von Geschichte besteht, ist nicht zu leugnen. An die sprachliche Klasse eines Daniel Kehlmann kommt Thome jedoch nicht heran.