Samstag, 5. November 2011

Erinnerungen an drei Arbeitskollegen – unter vielen

Im Folgenden möchte ich die Erinnerung an drei Kollegen wach rufen, mit denen ich jahrzehntelang eng im selben Unternehmen zusammengearbeitet habe. Sie unterschieden sich sehr in ihren Werdegängen, in ihren Veranlagungen und in ihren Charakteren. Alle drei stellen Musterbeispiele dar von Quereinsteigern in das damals neue Fachgebiet der Informatik. Trotz ihrer Verschiedenheit haben sie sich in der Zusammenarbeit mit ihren Teams gegenseitig ergänzt. Obwohl alle drei seit Jahren verstorben sind, denke ich heute immer noch gerne an sie. Durch sie wurde mein Berufsleben bereichert.

Volker Degering (1926-1988)

Degering stammte aus Magdeburg und hatte zwischen 1952 und 1958 in Berlin Mathematik, Physik und Philosophie studiert. Da er im Zweiten Weltkrieg als Flakhelfer im Einsatz war, konnte er erst mit Verspätung sein Studium beginnen. Er hatte bereits das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen absolviert, ehe er 1959 zur IBM Deutschland ging. Ich hatte ihn als Programmierer für das IBM 650 Rechenzentrum in Düsseldorf eingestellt. Da seine Frau mit Sohn anfangs noch in Berlin wohnen blieb, unternahm er fast jedes Wochenende eine stundenlange Autobahnfahrt von Düsseldorf nach Berlin und zurück mit einem Leichtmotorad. In wetterfester Motoradmontur gekleidet, mitunter von Dreck bespritzt, kam er manchmal auch erst montags gegen Mittag ins Büro

 
Volker Degering im 650-RZ Düsseldorf 1961


Im Jahre 1964 wechselte er von Düsseldorf nach Böblingen. In der Software-Entwicklung des Labors Böblingen wirkte er bis zu seiner Frühpensionierung im Jahre 1986. Er starb bereits 1988 an einem Herzleiden. Während seiner Böblinger Zeit wohnten er und seine Familie (mit fünf Kindern) in Herrenberg. Er hat auf dem dortigen Waldfriedhof seine Ruhestätte gefunden.

Degering war von seiner Berufstätigkeit wie von einer Leidenschaft besessen. Hatte er eine neue Aufgabe, gönnte er sich keine Ruhe, bis dass sie gelöst war. Er gehörte zu der Sorte von Mitarbeitern, die sein Manager auffordern musste, mal Feierabend oder gar Urlaub zu machen. Seine Programme waren relativ gut strukturiert und testbar. Ihm widerstrebte es jedoch, jedweden Text, sei es in Deutsch oder Englisch, zu verfassen. Darunter litt an erster Stelle die Programm-Dokumentation. Die beste Lösung dieses Problems bestand für mich darin, einen jungen Mitarbeiter zu suchen und diesen zu motivieren, seine Ausbildung zu beschleunigen, indem er Volker Degering über die Schultern schaut und dessen Programme dokumentiert. Das funktionierte zwar oft, aber nicht immer.

Drei Aspekte vervollständigen das Charakterbild. Degering war zeitlebens ein starker Raucher. Man sah ihn nur mit einer Zigarette oder einem Zigarillo in der Hand. Deshalb genoss er stets den Vorzug eines Einzelzimmers. Sein Konsum an Kaffee betrug vermutlich mehrere Liter pro Tag. Nicht selten enthielten seine Programm­listen oder sein Anzug deutlich erkennbare Kaffeeflecken. Am markantesten war seine Besessenheit von sportlichen Limousinen. Er war ein treuer Kunde der Marke BMW. Es wird überliefert, dass er seiner Pflicht, am Wochenende ein Kleinkind zu betreuen, auf besonders originelle Weise gerecht wurde. Er legte es auf den Hinter­sitz seines Autos zum Schlafen, während dessen er drei bis vier Stunden lang die Autobahn tourte. Wie mir Degerings Witwe vor kurzem mitteilte, hat sich die Leiden­schaft für schnelle Autos auf einige seiner fünf Kinder vererbt.

Laszlo B. (1935-2004)

Laszlo war in Ungarn geboren, erhielt seine Gymnasialbildung in einem katholischen Internat, und war bereits mitten in seinem Maschinenbaustudium, als es 1956 zum Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft kam. Er floh nach Deutschland und konnte 1960 sein Studium in Deutschland zum Abschluss bringen. Im Jahr darauf nahm er die Stellung bei der IBM in Böblingen an. 

Ähnlich wie bei Degering hatte Programmieren bei ihm fast den Charakter einer Leidenschaft. Im Gegensatz zu Degering ging er jedoch alle seine Projekte sehr rational an. Er überlegte sich genau, wie er vorgehen wollte, erklärte dies seinem Chef und legte los. Auf seine Umfangsschätzungen (KLOC) und Zeitschätzungen (Personenmonate) konnte man sich verlassen. War er früher als geplant fertig, bot er an, noch einige Optimierungen vorzunehmen. Dabei musste man allerdings aufpassen, dass er nicht zu weit ging.

Zu den ersten Projekten, zu denen Laszlo beitrug, gehörte der RPG-Übersetzer für das Model 20 der System/360-Familie. Es war dies ein Mehrphasen-Compiler, von dem es drei Versionen gab. Die früheste Version basierte auf Lochkarten als Speichermedium und wurde Ende 1965 ausgeliefert, die beiden andern benutzten Magnetbänder bzw. Magnetplatten als Systemresidenz. Die Kartenversion hatte 4 KB Hauptspeicher zur Verfügung, die beiden andern jeweils 8 KB. Alle erzeugten sehr effizienten Objektcode.

Laszlos spätere Projekte betrafen fast immer den innersten Kern des Betriebs­systems. Vermutlich hat er für das DOS/VS-System der IBM den Supervisor drei oder vier Mal neugeschrieben. Das betraf mal die Erhöhung des Grades des Multiprogramming (Anzahl zugelassener paralleler Prozesse), mal die Hauptspeicherverwaltung (virtuelle Adressierung), mal neue Speichermedien für die System-Residenz (Karten. Magnetbänder, verschiedene Festplatten-Typen und -Architekturen). Selten arbeitete er an Projekten außerhalb des Systemkerns. Ein Beispiel war eine Implementierung eines Interpreters der Sprache RPG im Mikrocode. Das war allerdings nur ein Prototyp, der nicht an Kunden ausgeliefert wurde. Er zeigte, dass zwar eine Leistungssteigerung um den Faktor 2-3 und eine gute Form der Interaktion möglich waren, machte aber auch klar, dass es eine Sackgasse war. Bei jeder neuen Rechner-Generation hätte der Interpreter von Grund auf neu geschrieben werden müssen.

Laszlo war ein sehr zurückhaltender, kaum Ansprüche stellender Mitarbeiter. Meist strahlte er sein Gegenüber mit einem freundlichen Lächeln an und hatte mit niemandem Streit. Er rauchte wenig, trank kaum Kaffee und beteiligte sich an Diskussionen nur dann, wenn er wesentliche inhaltliche Beiträge machen konnte. Im Jahre 1995 nahm er ein Frühpensionsangebot der Firma IBM an. Als freier Mitarbeiter führte er danach noch mehrere Jahre lang Programmieraufträge für die Firma IBM durch. Er wohnte mit seiner Familie in W. und wurde unter Teilnahme vieler ehemaliger Kollegen auf dem dortigen Friedhof beigesetzt (der Name und die persönlichen Daten wurden geändert).

Immanuel Witt (1915-1994)

Witts Eltern stammten aus dem Schwabenland. Er selbst wurde in China geboren, als seine Eltern dort als protestantische Missionare tätig waren. Er hatte Musik studiert und eine Ausbildung als Organist genossen. In der historischen St. Martins­kirche in Sindelfingen – aber nicht nur dort – war er als einer der Organisten an Sonn- und Feiertagen im jahrelangen, regelmäßigen Einsatz. Seine Ehefrau entstammte einer Stuttgarter Musikerfamilie.

Witt hatte sich entschlossen, die Programmierung quasi als Zusatzbeschäftigung an Wochentagen zu betreiben, um das Einkommen der Familie zu verbessern. Die Folge war, dass beide Tätigkeiten ihn emotional und intellektuell in Bann schlugen. Im Gegensatz zu einigen andern Kollegen, war für ihn die mit Rechnern verbundene Technik nicht Selbstzweck. Er sah sie als Mittel an, um Menschen dabei zu helfen, ihre Aufgaben und Probleme zu lösen. In vorderster Front dabei mitwirken zu können, gab ihm eine große Befriedigung. Obwohl wir diesen Begriff damals noch nicht kannten, war seine Grundeinstellung die eines Software-Ergonomen. Das drückte sich darin aus, dass seine Sorge als Entwickler in starkem Maße auf die Nutzer gerichtet war. ‚Können wir das unsern Nutzern zumuten? Was können sie in dieser Situation tun?‘ Das waren typische Fragen, die er stellte.


  
Immanuel Witt in Nizza 1963

Ein Projekt, bei dem diese Denkweise extrem auf die Probe gestellt wurde, war die Software-Unterstützung für eine Maschine, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Sie hieß Mehrfunktionskarteneinheit und war das primäre Ein- und Ausgabegerät des Modells 20 der System/360-Familie. Die Maschine hatte die Typenbezeichnung IBM 2560 und die deutsche Abkürzung MFKE. Bei uns hieß sie nur Miefke. Die Maschine konnte Lochkarten lesen, stanzen und bedrucken. Da sie auch zum Sortieren und Mischen von Lochkarten verwendet werden konnte, besaß sie zwei Zuführungen und fünf Ablagefächer. Intern gab es acht Stationen, über die Lochkarten gesteuert wurden, wobei sie sich aber nicht überholen durften. War die normale Operation schon komplex, so potenzierte sich dies in Fehlersituationen. Dabei durften keine Lochkarten verloren gehen und ein Wiederanlauf für jede Situation mit klarer Anweisung möglich sein. Die erfolgreiche Lösung dieser ver­trackten Aufgabe rechtzeitig zu Weihnachten 1965 war Immanuel Witts Meisterstück.

An seine späteren Projekte erinnere ich mich weniger intensiv. Hervorheben möchte ich allerdings einen Beitrag von ihm zur deutschen Umgangssprache. Ende der 1960er Jahre vertrat er die Firma IBM im Deutschen Normenausschuss (DIN), und zwar in dem Gremium, das die deutsche Version einiger Begriffe aus der Daten­verarbeitung festlegte. Auf Witts Vorschlag wurde das allgegenwärtige englische Wort ‚file‘ mit ‚Datei‘ übersetzt. Es war dies seine Neuschöpfung, angelehnt an das Wort ‚Kartei‘. 

Immanuel Witt pflegte Fotografieren als Hobby, dem er sowohl auf Geschäfts- wie auf Privatreisen frönte. Das hier verwendete Foto stammt allerdings aus meinem (leider etwas verschmutzten) Dia-Bestand. Es zeigt Immanual Witt 1963 auf der Promenade des Anglais in Nizza, zusammen mit der Ehefrau des Autors. Er hatte mich und meine Familie mehrmals während meines dortigen Auslandaufenthalts besucht. Immanuel Witt und seine Frau lebten nach der Pensionierung in Hailfingen bei Rottenburg. Sie sind beide dort beerdigt.

Die vielen Andern

Mit den drei erwähnten Kollegen möchte ich stellvertretend an einige Hundert Kolleginnen und Kollegen erinnern, denen ich während meiner Berufsjahre bei einem international tätigen Unternehmen begegnet bin. Besonders die Software-Entwickler, mit denen ich am meisten zu tun hatte, waren eine sehr bunt gemischte Gemein­schaft. Es gab unter ihnen Ägypter, Amerikaner, Australier, Briten, Holländer, Franzosen, Griechen, Italiener, Japaner, Neuseeländer, Österreicher, Polen, Portugiesen, Schweden und Schweizer. Hier sind nur diejenigen Nationalitäten erwähnt, an deren Vertreter ich mich noch heute erinnere. 



Böblinger Software-Entwickler 1972

Selbst die Kolleginnen und Kollegen, die einen deutschen Pass besaßen, verrieten immer gerne ihre landsmannschaftliche Herkunft. Sie sahen sich in erster Linie als Bayern, Badener, Berliner, Hamburger, Franken, Hessen, Rheinländer, Sachsen oder Schwaben. Es war eigentlich nur das private Leben, das von ihnen eine gewisse Anpassung an die regionale Mentalität verlangte, an Spätzle, Trollinger und Kehrwochen. Obwohl das Unternehmen im Schwabenland ansässig war, stellten die Schwaben unter uns nur eine verschwindend kleine Minderheit dar. Lediglich in sprachlicher Hinsicht fielen sie etwas mehr auf als die andern, da sie von ihrem markanten Dialekt fast ungebremst Gebrauch machten. Der Koch der Betriebsküche hatte jedoch täglich das Problem, es Allen recht zu machen. Dass die Getränke-Automaten im Betrieb neben Cola und Sprudel auch Bier vorrätig hielten, wunderte vor allem die ausländischen Besucher.

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