Montag, 17. September 2012

Emergenz – ein Wort, das so tut als ob es etwas erklärt

In einem Beitrag im Spektrum der Wissenschaft (September 2012) schrieb Michael Springer:

Unter Emergenz versteht man in der Regel etwas, das komplexe Phänomene nicht bloß vereinfacht, sondern auch Neues erzeugt; Emergenz sollte aus einem komplexen System nach gängigem Verständnis »mehr als die Summe seiner Teile« machen, nicht weniger!

Im Folgenden gebe ich Auszüge einer längeren Korrespondenz zwischen Peter Hiemann und Hans Diel wieder.  Zusätzliche Kommentare von Hans Diel sind als Einschübe (kursiv) in Peter Hiemanns Text eingefügt und  (mit HD) als solche kenntlich gemacht.

Am 12.9.2012 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

Nachfolgend gebe ich ein paar Kommentare zu dem SdW-Artikel „Komplexität und Emergenz“.

Der Autor Michael Springer (er ist Physiker) erklärt das Phänomen Emergenz in physikalischen Systemen durch die Notwendigkeit und die Herleitung (Entdeckung?) physikalischer Gesetzmäßigkeiten, um physikalische Phänomene unterschiedlicher physikalischer Abstraktionsebenen zu beschreiben. Für Springer „emergiert“ das Phänomen Zeitpfeil „aus der statistischen Beschreibung komplexer Mikrosysteme“. Wenn er in diesem Zusammenhang von Mikrosystemen spricht, meint er Ansammlungen von Atomen oder Molekülen in einem Gas oder einer Flüssigkeit. Mit statistischen Mitteln lässt sich in diesem Fall Ursache (irreversible thermische Energie) und Wirkung (Entropiezunahme) eines physikalisch emergenten Phänomens angeben.

Ich bin ziemlich sicher, dass Springer weiß, dass das Phänomen Emergenz in biologischen Systemen nicht „aus der statistischen Beschreibung komplexer Mikrosysteme emergiert“, sondern das Resultat evolutionärer Prozesse ist. 

HD: Ich sehe nicht den Gegensatz von „statistischen Beschreibungen komplexer Mikrosysteme“ und „evolutionären Prozessen“, glaube aber auch, dass Springer evolutionäre Prozesse nicht auf statistische Beschreibung reduzieren will. Ein mechanistischer Ansatz „Ursache --> Wirkung“ hat in biologischen Systemen nur beschränkte Gültigkeit, z.B. in dem Prozess Gen → Protein. Ich sehe „Ursache --> Wirkung“ Erklärungen nicht als „mechanistischen Ansatz“ und wundere mich, dass „Ursache --> Wirkung“ Erklärungen in biologischen Systemen nur beschränkte Gültigkeit haben sollen. Wohl sehe ich, dass diese in der Biologie zurzeit noch nur begrenzt vorhanden sind.

Ontogenetische und vor allem phylogenetische evolutionäre Entwicklungen resultieren in Zunahme der Komplexität existierender Systemstrukturen. Das führt gelegentlich (auch nicht mit statistischen Mitteln abzuschätzen) zu neuen emergenten Systemelementen oder emergenten Eigenschaften vorher existierender Systemelemente.

Komplexitätszunahme kann übrigens bei Systemen jeglicher Art zu chaotischen Verhältnissen führen. Nach meinem Verständnis lassen sich biologische Phänomene und eben auch emergente biologische Phänomene am ehesten auf der Basis der Interaktion zwischen Systemelementen der verschiedensten biologischen Abstraktionsebenen (Zellen – Gewebe – Organe – Funktionssysteme - Organismus) erklären. Bei emergenten biologischen Phänomenen spielen die evolutionären Prinzipien Reproduktion, Mutation und Selektion eine entscheidende Rolle.

Übrigens überlegt Springer am Schluss des SdW-Artikels, ob das soziale Phänomen „Altruismus“ als emergentes Phänomen der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden könnte. Seine Aussage „damit entwickeln die Individuen einer Population Emergenz wie die Atome eines Gases“ hat es mir außerordentlich erschwert, seine Versuche einer allgemeinen Erklärung der Phänomene „Komplexität und Emergenz“ allzu ernst zu nehmen.

HD: Wenn Sie unter einer „emergenten Eigenschaft“ eine Eigenschaft verstehen die (a) in einem System erst nach einer gewissen (zeitlichen) Entwicklung auftritt, und (b) nicht in den Begriffen des bisherigen Systems erklärt werden kann, dann wundert es mich, dass Sie die Theorie von Springer für abwegig halten. Damit will ich nicht sagen, dass ich die Theorie gut finde. An Stelle einer Theorie von Allem und der Ableitung naturwissenschaftlicher Phänomene aus universalen Gesetzen, werden wir uns wohl mit transdisziplinären Dialogen, deren Ziel es ist, analoge Strukturen komplexer Systeme auf unterschiedlichen Emergenzebenen zu vergleichen, zufrieden geben müssen. Da stimme ich vehement zu. Eine Theorie von Allem die alles erklärt wird es nicht  geben. Das schließt jedoch nicht aus, dass es Theorien geben kann, deren Gesetze universelle Gültigkeit haben.

Ich befasse mich schon seit langem mit Fragen zu Systemstrukturen. Das Thema hat eine lange Geschichte und ist in letzter Zeit äußerst aktuell. Wenn mathematische Algorithmen nicht ausreichen, Systeme hinreichend zu beschreiben, hat man es mit Begriffen wie Komplexität, Berechenbarkeit, Interaktivität, Selbstorganisation, Ontogenese, Phylogenese, Emergenz, Plastizität etc. zu tun. Bei Überlegungen zu diesen Begriffen sind stets nichtlineare (rückbezügliche, iterative) Prozesse im Spiel. 1984 haben mich bereits Mandelbrots Gedanken über die fraktale Geometrie der Natur sehr beeindruckt. Mandelbrots iterative Prozesse erzeugen „wie aus dem Nichts“ Strukturen mit selbstähnlichen Teilstrukturen.

Die folgenden Aussagen untermauern, dass das Thema „Teile und Ganzes“ schon immer Anlass für transdisziplinäre Diskussionen war und ist.

Aristoteles:

Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.

Friedrich Engels, Karl Marx:

Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, daß in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung. Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedener chemischer Zusammensetzung oder auf verschiedenen Mengen resp. Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden.

Philip W. Anderson:

In jedem Stadium entsteht die Welt, die wir wahrnehmen, durch »Emergenz«. Das heißt durch den Prozeß, bei dem beträchtliche Aggregationen von Materie spontan Eigenschaften entwickeln können, die für die einfacheren Einheiten, aus denen sie bestehen, keine Bedeutung haben….„Dieses Prinzip der Emergenz ist eine ebenso alles durchdringende Grundlage moderner wissenschaftlicher Betrachtungsweise wie Reduktionismus…[Ja, richtig! Sofern er „Emergenz“ nicht auf „Aggregationen von Materie“ reduziert, sondern auf alles Mögliche].

Robert B. Laughlin:

Aus physikalischer Sicht macht es besonders viel Spaß über das Leben zu reden, weil es den extremsten Fall der Emergenz von Gesetzmäßigkeiten darstellt.,,,Leider sind dem Ausdruck Emergenz einige Bedeutungen zugewachsen, die für unterschiedliche Dinge stehen, darunter übernatürliche Erscheinungen, die den physikalischen Gesetzen nicht unterworfen sind. So etwas meine ich nicht. Ich verstehe darunter ein physikalisches Ordnungsprinzip.

Neil A. Campbell:

Organismen stellen demnach ein hierarchisches System dar: Sie bestehen aus Organen, diese aus Zellen, diese wiederum aus Organellen und diese sind wiederum aus Makromolekülen zusammengesetzt. Ein Proteinmolekül besitzt Eigenschaften, die keines der Atome aufweist, aus welchen es zusammengesetzt ist….Das ist so bei hierarchischen Systemen, aber ist das immer schon Emergenz?

Humberto Maturana, Francisco Varela:

Nun sind wir imstande zu sagen, dass jede Klasse von Einheiten eine der eigenen Klasse eigentümliche Phänomenologie besitzt. …Dass sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten in ihrer Ontogenese gekoppelt haben, sagen wir, wenn ihre Interaktionen einen rekursiven oder sehr stabilen Charakter erlangt haben. …Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt), was auch umgekehrt für das Milieu gilt.

Am 13.9.2012 schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:

Das Thema Emergenz liefert jede Menge Stoff für (kontroverse) Diskussionen. Dass Michael Springer Physiker ist wusste ich nicht. Es macht ihn für mich, wie sich denken können, noch nicht verdächtig, nicht auch etwas Allgemeinnützliches schreiben zu können.

Mir hat sein Essay gefallen, weil er für mich als Erster eine Definition/Erklärung von Emergenz gegeben hat, bei der ich nicht das Gefühl hatte, dass der Autor, so wie ich selbst, nur unklare Vorstellungen davon hat, was man unter dem Thema verstehen sollte. Deshalb kann es natürlich trotzdem noch sein, dass sein Verständnis von Emergenz, zwar präzise und logisch konsistent, aber für Gebiete wie die Biologie unzweckmäßig ist.

Ein zentraler Punkt der Definition von Springer ist das Verständnis, dass das was „emergiert“ nicht Systeme, Dinge, Zustände, Objekte sind, sondern Beschreibungen, Modelle, Sichten, Beschreibungsmöglichkeiten von Systemen, etc. Sein Beispiel mit der Beschreibung eines Systems in Begriffen von Temperatur, Druck, Entropie, etc. zeigt sehr schön, dass hier nicht das System selbst emergiert, sondern eine neue Art der Betrachtung.
Damit haben wir drei Alternativen:
  1. Wir können sagen, dass wir das, was Springer zur Emergenz zählt (das Entstehen von neuen Konzepten der Betrachtung), nicht zur Emergenz zählen wollen.
  2. Wir können sagen, dass wir genau das zur Emergenz zählen wollen, was Springer darunter versteht.
  3. Wir können sagen, dass wir sowohl die Emergenz von Systemen, als auch das Entstehen von neuen Konzepten der Betrachtung zur Emergenz zählen wollen.
Ich vermute Sie tendieren zu (1). Ich würde eher zu (3) tendieren, habe jedoch sowohl bei (3), als auch bei (1) Angst, dass dann mein Verständnis von Emergenz wieder verschwommen wird.

Ein zentraler Punkt, wo ich Probleme damit habe ein weit verbreitetes Verständnis von Emergenz nachzuvollziehen, ist das Verhältnis von Emergenz und Reduktionismus. Ich habe den Eindruck, dass oft Emergenz und Reduktionismus als konträr gesehen werden. Wenn ich dann jedoch die zitierten Beispiele für Emergenz sehe (Leben, Intelligenz, Supraleitfähigkeit, etc.) verstehe ich nicht, warum es nicht sinnvoll sein kann diese Phänomene reduktionistisch, d.h. in Bezug auf tiefer liegende Gesetzmäßigkeiten zu erklären zu versuchen. Glaubt man

     (a)   dass dies nicht möglich ist, 
     (b)   dass dies nicht sinnvoll ist, oder 
     (c)   dass man für das betreffende Phänomen neue eigene Begriffe und Gesetzmäßigkeiten finden kann und dies auch tun sollte?

Bei (c) würde ich sofort zustimmen. Dies würde sich jedoch genau mit dem Verständnis von Springer decken. Es würde aber keineswegs der Suche nach reduktionistischen Erklärungen überflüssig machen.


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