Donnerstag, 13. März 2014

Muss Denken den Daten folgen (oder umgekehrt)?

Mit der apodiktischen Aussage ‚Das Denken muss nun auch den Daten folgen‘ versucht Hans-Ulrich Gumbrecht die Leser der FAZ im Feuilleton vom 11.3.2014 auf eine kommende Artikelserie aufmerksam zu machen. Ich nenne die Aussage apodiktisch, weil sie anscheinend keinen Widerspruch zulässt. Derjenige, der mich auf den Artikel aufmerksam machte, war mein Blog-Partner Hartmut Wedekind. Der Artikel ist auch in elektronischer Form verfügbar, d.h. man kann ihn ohne weiteres nachlesen. Hartmut Wedekind nahm inzwischen Kontakt zu Gumbrecht auf, um ihm seine Probleme mit dem Artikel zu erläutern. Nur soviel sei zitiert:

Nicht „Das Denken muss nun auch den Daten folgen“, sondern umgekehrt: „Das Denken geht den Daten voraus“. Das sagt ein emeritierter Professor für Informatik (Datenbanksysteme), und er bezieht sich dabei auf jemanden, der das vor rund 240 Jahren behauptete und das eine Kopernikanische Wende nannte.

Dass hier Immanuel Kant (1724-1804) gemeint ist, liegt auf der Hand. Gumbrecht (Jahrgang 1948) ist ein in Würzburg geborener und aufgewachsener Romanist, Literaturwissenschaftler und Publizist. Er hat einen Lehrstuhl für vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik) an der Stanford University inne. Während die Diskussion über Gumbrecht und seine Ideen eigentlich auf breiter Ebene stattfinden sollte, will ich schon mal einige Ideen aus dem genannten Artikel herausgreifen und etwas näher analysieren. Dabei greife ich solche Formulierungen heraus, die mich als literaturwissenschaftlichen Laien überraschten.
  • Technische Innovationen verändern das Denken und über das Denken die Grundlagen der menschlichen Existenz.
  • Während auf Stein, Papyrus, Pergament und Papier festgehaltene Texte immer ‚stabile‘ Texte sind, haben elektronisch produzierte und aufbewahrte Texte eine spezifische Plastizität. Man sollte sie daher nicht als Texte sondern als Wissensaggregate bezeichnen.
  • Buchpublikationen, auch solche mit weniger als zehn Lesern, waren ‚für die Menschheit‘ geschrieben, während ungelesene Blogger neue Dimensionen der Einsamkeit erschließen. Daher sind Begriffe wie ‚Autorschaft‘ und ‚Copyright‘ obsolet.
  • Denkbar ist, dass private Daten einem dramatischen Kursverfall ausgesetzt sind.
  • Wegen der Schnelligkeit der Börse ist sie Teil der Gegenwart geworden. Man plant nicht mehr im Voraus, sondern reagiert … im Vertrauen auf die eigenen Intuitionen.
  • Wir folgen blinden Trends, an deren Emergenz wir selbst beteiligt waren.
  • In Zukunft fungieren wir in einer Fusion von Bewusstsein und Programmen.
  • Wir können eine Gleichzeitigkeit konstatieren zwischen der Emergenz der elektronischen Welt und der Emergenz eines epistemologischen Realismus, …, einer allgemeinen Mobilisierung ohne Richtung.
  • Die elektronische Welt zu denken schließt die Herausforderung ein,  neue Begriffe, Formen der Argumentation und Gesten des Denkens entstehen zu lassen. die Teil einer veränderten Epistemologie sind.
  • Es ist nicht auszuschließen, dass die notwendigen Analysen und Antworten nicht in der Reichweite des menschlichen Bewusstseins liegen.
  • Es ist ein Trost, dass alle anderen Gattungen des Lebens ohne reflexive Erfassung ihrer Situation problemlos existieren.

Manchmal tun mir Geisteswissenschaftler echt leid. Sie verstehen nicht, warum andere Menschen ihre Probleme nicht verstehen. Anstatt an jedem Zitat meine Bemerkungen anzuhängen, erzähle ich in meinen Worten, was – nach meinem Verständnis – der Autor sagen will. Es mag dann manchmal fast trivial klingen. Wo ich eine etwas andere Vorstellung habe, sage ich dies.

Natürlich beeinflussen unsere Werkzeuge und unsere Tätigkeiten unser Denken. Ein Autofahrer erlebt eine Straßenkreuzung anders als ein Radfahrer oder Fußgänger. Wer einen Hammer besitzt, fasst sehr leicht auch Dinge als Nagel auf, die es nicht sind. Etwas Geschriebenes hat andere Eigenschaften als etwas Gesprochenes. Es ist leichter zu korrigieren. Gesprochenes wirkt als wäre es unveränderlich. Wollen wir es korrigieren, müssen wir es zuerst widerrufen. Dafür gibt es sprachliche Hilfsmittel wie ‚Sorry‘ oder ‚Verzeihung‘. In Stein gemeißeltes oder mit Tinte geschriebenes ist schwieriger zu korrigieren als ein Bleistifttext oder ein Text auf einer Schiefertafel. Zu sagen, bei Geisteswissenschaften seien ‚stabile‘ Texte vorherrschend, ist eine verengende Sichtweise.

Private und öffentliche Daten gab es schon immer und wird es immer geben. Dass bestimmte Medien besser geeignet sind als andere, um Daten geheim, also privat zu halten, ist klar. Alle elektromagnetischen Aufzeichnungen strahlen aus. Meistens wird dies vergessen. Manchmal wird es von jemanden ausgenutzt. Das ist aber kein Grund zu sagen, dass es bald keine privaten Daten mehr geben wird.

Wenn Daten oder Rechenergebnisse im ‚Sekundenbruchteil‘ zur Verfügung stehen, heißt dies nicht, dass dann Planung überflüssig wird. Einerseits wird die schnelle Verfügbarkeit erst durch gute Planung (sprich Programmierung) ermöglicht. Andererseits muss man auch, basierend auf den aktuellen Daten, seine Planung anpassen. Es gibt keinen Grund überhaupt Daten zur Verfügung zu stellen, wenn man sie nicht für Planungszwecke verwendet. Natürlich können Daten auch der reinen Unterhaltung dienen, z.B. Musik- oder Bilddaten.

Zu sagen Bewusstsein und Programme könnten eine Fusion oder Symbiose eingehen, ist nicht einmal als Allegorie sinnvoll. Programme sind kondensierte und transferierte Gedanken. Sie steuern Abläufe oder Datenumwandlungen. Wie jedes andere Werkzeug können sie unser Denken beeinflussen (siehe oben).

Jetzt zu zwei etwas schwierigeren Themen, mit philosophischem Tiefgang. Das erste betrifft Gumbrechts Aussagen zur Erkenntnistheorie. Er nennt es Epistemologie, hoffend damit einige Leser abzuhängen. Er stellt die Frage: Kann es sein, dass die Wissenschaft uns zu Erkenntnissen zwingt, für die uns unser Bewusstsein keine Hilfe geben kann? Das Problem ist längst bekannt. Beispiele sind die Relativitätstheorie und die Quantenphysik. Gerade zur Quantenphysik gab es immer wieder Beiträge in diesem Blog. Gewisse Erkenntnisse der Physik haben sich zwar im Bewusstsein festgesetzt, werden dann aber wieder verdrängt. Die Ereignisse in Fukushima im März 2011 sind ein lehrreiches Beispiel.

Das zweite Thema ist die Rolle der Sprache. Die Sprache ist ein Werkzeug des Denkens, aber nicht mehr. Vor allem ist es nicht das einzige Werkzeug. Jeder darstellende Künstler und jeder Ingenieur oder Architekt denkt in Bildern, ein Komponist in Geräuchen, auch Musik genannt. Werden neue Objekte oder neue Sachverhalte erkannt, ist es wichtig, dass sie benannt werden. Um über mehrere unterschiedliche Dinge gleichzeitig reden zu können, werden übergeordnete Begriffe gebildet. Ein Beispiel ist das Wort Obst für Äpfel, Birnen, usw. Dass hierbei der Schritt vom Typ zur Mengenbildung (inkl. unendlicher Mengen) in unverantwortlicher Weise verlassen wird, wurde als Abstraktionitis in diesem Blog thematisiert. Gumbrecht geht es eher um die Benennung von Objekten oder deren Eigenschaften. Hier musste die Wissenschaft immer sprachschöpfend tätig sein. Entweder wurden neue Begriffe gebildet oder vorhandene umdefiniert. Kraft, Masse, Spannung und Widerstand sind Beispiele der letzteren Art. Früher waren es Latein und Französisch, heute dient immer mehr das Englische als Steinbruch für neue Begriffe des Deutschen.

Zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zu der durch die Überschrift ausgelösten Diskussion. Als erstes kann man fragen, ob das Denken oder die Dinge zuerst waren. Wenn man Denken nur Menschen (oder höheren Formen des Lebens) zugesteht, ist die Antwort klar. Der Kosmos besteht seit dem Urknall, also seit 13,4 Milliarden Jahren. Menschen gibt es jedoch erst seit hunderttausend Jahren.

Schwieriger wird es, wenn wir fragen, ob es Daten gab, bevor es Denken gab. Die Dinge, die seit dem Urknall den Kosmos bevölkerten, hatten Eigenschaften wie Dichte, Masse und Anziehung. Sie wirkten auch von einem Körper auf den anderen und unterschieden sich von Körper zu Körper. Nur gab es noch niemanden, der die Größen beobachten oder messen konnte. Also gab es keine Daten. Mit andern Worten: Die Welt war die weitaus längste Zeit ihrer Existenz ohne Daten, auch ohne Information. Daten können sich ändern, ohne dass Denken erforderlich ist. Nur wird die Änderung nicht registriert. Ein Baum, der im Urwald umfällt, verursacht Schallwellen, auch wenn kein Hörorgan in Reichweite ist. Nicht jedes Hörorgan, das den Schall empfängt, interpretiert ihn auf die gleiche Weise.

Ehe ich diesen Pfad weiterspinne, möchte ich darauf hinweisen, dass die meisten Physiker dies anders sehen. Für sie ist Information ein physikalischer (oder mathematischer) Begriff, der unabhängig von der Existenz beobachtender oder messender Wesen ist.

Sollten Sie durch die angeschnittenen Fragen neugierig geworden sein, dann kann Ihnen dieser Blog hin und wieder Antworten geben. Manchmal werden wir aber nur die Fragen vertiefen.

3 Kommentare:

  1. Am 13.3.2014 schrieb Vera Münch aus Hildesheim:

    'Muss Denken den Daten folgen (oder umgekehrt)?' Das ist die große Frage. Schön wär's, wenn es umgekehrt bliebe. Aber nach vier Tagen ‪CeBIT befürchte ich, dass wir schon darüber hinaus sind. Jetzt sagen uns die Daten, wo es langgeht.

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  2. Übrigens finde ich die bis dato 17 Lesermeinungen zu dem Artikel in der FAZ erstaunlich vernünftig. Natürlich gibt es gegensätzliche Bewertungen. So findet einer, dass der Autor hinter dem Mond lebe. Ein anderer vergleicht die Geisteswissenschafler mit den Amish, einer religiösen Sekte. In einem dreiteiligen Beitrag stellt ein Autor fest, dass Gumbrecht ein Anliegen der 1970er Jahre aufgreift. Ist doch auch was.

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  3. Am 143.2014 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    bei zwischenmenschlichen Interaktionen handelt es sich weniger darum, dass etwa das „Denken den Daten“ oder die „Daten dem Denken“ „folgen“. Vielmehr kommen bei interaktiven Kommunikationen Kriterien zur Wirkung, ob Information akzeptiert oder verworfen (selektiert) wird.

    Ich versuche seit geraumer Zeit, die Begriffe „Denken“ und „Bewusstsein“ sowohl in dessen biologischen, dessen kognitiven (geistig-kulturellen) als auch dessen gesellschaftlichen (sozial-institutionellen) Aspekten zu verstehen. Ich bevorzuge ein Denkmodell, das unterschiedliche Quellen und Flüsse von Information und verschiedene „Bewusstseinsperpektiven“ berücksichtigt (Blog-Eintrag „Biologie und Philosophie – eine Wechselbeziehung“ vom 16.9. 2013). Ich bin überzeugt, dass alle Aspekte zusammen behandelt werden müssen, um einer Erklärung menschlicher Denk- und Verhaltensweisen nahe zu kommen. Ich habe den Eindruck, dass die Denkansätze der Philosophen und Informatiker zum Teil deshalb unverträglich sind, weil sie die Begriffe „Denken“ und „Information (Daten)“ im Sinne ihrer professionellen Sicht einschränken.

    Hans Ulrich Gumbrecht glaubt zu Recht, dass „die digitale Revolution die Welt und die Art, wie wir uns selbst erleben, dramatisch verändern“ werden. Die „weltlichen“ Veränderungen betreffen die Arbeitswelt (in meinem Denkmodell „Funktionssysteme“) und neue Möglichkeiten der Kommunikation (in meinem Denkmodell „Interaktionssysteme“). Derartige Veränderungen lassen sich schon heute beobachten und analysieren. Die Veränderungen der Art, wie sich Individuen durch die „weltlichen Veränderungen“ selbst erleben (geistig-kulturell), lassen sich allgemein nicht darstellen und einschätzen. Ich glaube auch nicht, dass es mit Mitteln der klassischen Philosophie möglich sein wird, „diesen (psychologischen) Wandel mit neuen Begriffen fassen und beeinflussen zu können“.

    Die technischen Veränderungen der Arbeitswelt und der Kommunikationssysteme ist nicht die Domäne der Philosophie, sondern die der Ingenieure und der Unternehmen, die technische Veränderungen realisieren. Ich denke nicht, dass bei der Realisierung von IT-Projekten „geistig-kulturelle“ Überlegungen eine Rolle spielen. Es geht ausschließlich darum, potentielle Benutzer von digitalen Hilfsmitteln (auch Spiele) und sogenannten sozialen Kommunikationsmitteln zu finden. Ich bin ziemlich sicher, dass es ist nicht der Job von Informatikern ist, „die Art, wie wir uns selbst erleben“ bei ihren Projekten zu berücksichtigen. Bestenfalls geht es Informatikern um individuelle Benutzerfreundlichkeit und Datensicherheit.

    Bleibt am Ende die offene Frage: Wessen Job ist es eigentlich, die „geistig-kulturellen“ Veränderungen (das Denken) in einer „modernen“ Gesellschaft zu berücksichtigen und erwünschte Veränderungen zu realisieren ? Vermutlich lassen sich individuelle Veränderungen in einer komplexen demokratisch orientierten Gesellschaft nur zu einem sehr geringen Teil kontrolliert beeinflussen. Unvorhergesehene (auch emergente) erwünschte und unerwünschte Veränderungen können jederzeit eintreten. Die menschliche Geschichte zeigt, dass kurzfristig Bequemlichkeit und Unterhaltung versprechende Veränderungen schnell angenommen werden, ohne langfristige Konsequenzen zu bedenken. Mit unerwünschten Veränderungen müssen die betroffenen Menschen fertig werden bzw. sich etwas einfallen lassen.

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